Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
entsetzlich.
Anna graute vor diesem Bilde, das sie aus ihren eigenen Zügen so grenzenlos traurig ansah, wie ein Leben, das man abgebrochen mitten auf der Bahn und ehe es noch zum vollen Leben erwacht ist.
Hastig riß sie es vom Nagel herunter und stellte es gegen die Wand in die dunkelste Ecke ihrer Kammer. Wenn er doch kommen wollte, es zu vollenden! Ihr war, als ob durch dieses Bild auf geheimnisvolle Weise ihr Schicksal mit Giulios Leben verbunden wäre. Würde es sein Ziel erreichen oder abgebrochen bleiben, sinnlos und gewaltsam? Aber ihre eigenen Worte fielen ihr ein: „Gott ist gut, er läßt seine Geschöpfe nicht eher sterben, denn ihre Zeit erfüllet ist.“
Dann bückte sie sich und las die roten Blätter zusammen, sorgfältig, eines nach dem andern, ohne sie zu quetschen, daß kein Fleckchen an der weißen Diele und ihren weißen Fingern haften blieb, bis Boden und Tisch wieder blank waren, und dann beseitigte sie den toten Strauß.
*
Am letzten Tag des Jahres traf von dem Florentiner Meister ein umfangreicher Brief ein. Seit dem erschreckten kurzen Bericht, daß Giulio vor der Porta di Prato im Hause eines gewissen, unter dem Namen Sor Paolo bekannten Umbriers aufgefunden und sogleich dem Gerichte überliefert worden sei, war es die erste Nachricht. Sie lautete günstig: Die Anstrengungen von Giulios Vater waren nicht erfolglos geblieben; ein Zeuge hatte sich gefunden, dem es gelang, Giulios Tat als Ehrenrettung und Notwehr so weit vom Morde zu entfernen, daß die Freisprechung nur eine Frage der Zeit war und angesichts der bereits erlittenen Gefangenschaft nicht mehr lange zögern konnte. Auch die Nachrichten über Giulio selbst waren erfreulicher Art. Der Meister hatte ihn im Gefänguis aufgesucht. „Ach, welche Überraschung,“ schrieb er entzückt, „ich meinte einen verzweifelten, gegen seine Bande wütenden Knaben zu finden, und ich traf einen reifen, geklärten jungen Mann, der mit ruhigen und zuversichtlichen Worten von seiner Lage redete. ‚Wann Ihr Herrn Werner schreibt,‘ sprach er mit einem Lächeln, ‚so sagt ihm, daß ich mich nach nichts so sehr sehne wie nach Pinsel und Farben, das wird ihn freuen,‘ und dann erzählte er von einem Bildnis, das er bei Euch angefangen und nach dessen Vollendung sein Herz brennt. ‚Ein Meisterwerk sollte es werden,‘ sagte er mit leuchtenden Augen, ‚eine zweite Beatrice Cenci 10 , nur kühler, kühler, mit den grüngoldenen Tönen eines Correggio — oh, ich sehe es vor mir, und ich werde nicht froh sein, bis ich es vollendet!‘“
„Er ist ein anderer geworden,“ hieß es weitem, „das Gefängnis und die Ruhe des Nachdenkens haben seine Seele geläutert; aber der Grund zu seiner Wandlung — so scheint mir — wurde in Eurem edeln Hause gelegt, und ich glaube, daß er seine neueroberte Seelenkraft zu brauchen Gelegenheit haben wird, wann er zur Freiheit kommt; denn,“ schloß er bedenklich, „von Donna Ersilia ist mir seltsame Kunde geworden und auch von dem Freund. Fast fürcht’ ich, daß unserem Giulio die größte Prüfung noch bevorsteht.“
Der Florentiner Brief erweckte im Wernerschen Hause großen Jubel. „Susanna, Frau, das wird gefeiert!“ rief Herr Werner voll Übermut. „Wozu den Neujahrskram auf morgen versparen? Wann heut die Freude zu Gast kommt, muß man sie gebührlich empfangen, ansonst sie uns zum Saker wieder davonläuft!“
Und Frau Werner brachte unverzüglich das noch warm duftende Gebäck herbei, die buttrigweichen Schenkelchen und lustig figürten Bretzelein, die sie mit den beiden Mädchen gefertigt und allbereits zur Seite geschafft hatte, und brachte drei staudige Flaschen vom Keller herauf. Etwas zögernd stellte sie diese auf den Tisch: „Es sind die letzten von den Bonstettschen, Joseph.“
„Ei, grad die wollt’ ich,“ sagte Herr Werner lachend; „die besondere Ehre gönn’ ich ihnen, ein fröhlich Herz zu begießen. Mag das neue Jahr einen neuen Tropfen bringen, heut ist mir grad das Beste gut genug. Und nun holt mir meine Lehrjünger herbei; sie sollen auch ihre Freude haden!“
Rasch versammelte sich die kleine Gesellschaft, allen voran der flinke junge Waadtländer, der seit wenigen Wochen im Wernerschen Hause wohnte und seinem Meister mit flüchtigen Händen und mutwilligen Worten viel offenen Ärger und verstecktes Vergnügen bereitete; dann der lahme Adam Mörikofer, der seit dem Herbst Giulios Zimmer und Staffelei einnahm, und Christoph und ganz zuletzt auch Lukas Stark.
Dieser
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