Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
allbereits die lieben Engel zu hören im Paradeis,“ flüsterte er. Er sah Elisabeth groß an und griff nach ihrer Hand: „Das sollst öfter tun, Liebste, recht viel singen und fürnehmlich dieses trostliche Lied — auch nachher, und sollst denken, daß ich’s hör’, auch dort, und daß wir allezeit beisammen.“ Er lächelte: „Meine christliche Seele braucht kein Blut zu trinken, Elisabeth, um dich zu sehen. Allezeit werd’ ich dich haben und wirst du spüren, daß unsere Liebe wohl in ein ander Gewand geschlüpft, aber daß sie nicht geringer geworden, nur reiner, nur größer noch durch Himmelsglanz und die göttliche Gnad.“ Und Lisabeth nickte und lächelte unter Tränen.
Von nun an redeten sie immer davon, von dem Nachher. Johannes schier mit einer kleinen Ungeduld und Lisabeth still und ergeben. Anna sah mit Staunen, wie diese beiden Menschen mit einer fast seligen Ruhe alles Irdische von sich abtaten, gleich einem alten Kleid, und Leben und Menschlichkeit von ihrer grenzenlosen Liebe wie von einer großen läuternden Flamme gleichsam aufgezehrt wurden. Nichts hatte mehr Bestand als diese Liebe, die in der göttlichen sich aufzulösen schien und in der Zeitliches und Ewiges zusammenflossen. Wie klein kam sie sich auf einmal vor neben diesen beiden Menschen, denen sie vor kurzem noch mit ihrem gesunden Wesen Stärke und Halt gegeben hatte. Nun bedurften sie ihrer nimmer. Und so fern war sie ihnen auf einmal! Wann ihre Blicke durchs Fenster, das man bisweilen schon der stärkeren Sonne öffnen konnte, den grünen emsigen Wellen folgten und den federleichten Föhnwölkchen, die vom See herauf über das tiefe Blau strichen, wie sie da fühlte, daß sie mit hundert Fasern in dieser Welt wurzelte, mit hundert Hoffnungen und Forderungen, und sie vermeinte, ihr ungelebtes Leben zu fühlen wie etwas Starkes, Greifbares, und sein Ziel lag weit, und lang war der Weg.
Daß man so schlicht, mit solch frommer Ergebenheit sich zum Aufbruch rüsten und sein Liebstes dahingeben konnte, es war wie ein banges Wunder. Oft mitten in der Nacht, wann sie vom tiefen Schlaf, den die Mühen des Tages ihr auflegten, erwachte, hörte sie Lisabeths leises Beten; aber nicht wie früher, da sie um Genesung und Kraft des Geliebten gefleht hatte, ihr stilles Gebet ging um sein selig End. Und Anna fröstelte.
Aber einmal, als sie erwachte, sah sie die Schwester völlig angekleidet vor sich stehen mit weiten schreckhaften Augen: „Der Johannes, er hat mich gerufen, ich muß gehen.“
Anna sprang auf: „Kind, Kind, wohin denkst du!“ Aber da wurde schon unten an der Haustür ein lautes Pochen vernehmlich.
Das Haus ward lebendig. Der Amtmann öffnete. Vor der Tür stand der Tischlermeister Kambli, und der rote Schein seiner Laterne fiel trübsinnig in den schwarzen Hausgang. „Die Jungfer Elisabeth soll ich holen, mit Verlaub,“ sagte er mürrisch; „Cramer schickt mich, es geht zum Letzten mit ihm.“ Und stumm, ohne Klagen folgten Vater und Tochter dem roten Schein, der mit ängstlichem Flackern die steile Schoffelgasse hinunterhuschte.
Anna blieb zurück bei der Mutter, die ihrem Schmerz verzweifelten Ausdruck gab: „Nichts bleibt mir erspart, alles kommt über mich und meine armen Kinder! Die Lisabeth, die arme Lisabeth! So gefreut hab’ ich mich über den Johannes, und nun so!“ Und sie weinte hilflos und aufgelöst wie ein tiefgekränktes Kind. Anna suchte sie zu beschwichtigen mit lieben ruhigen Worten, als ob sie zu einem Kleinen spräche, und sorgte sich um sie wie um ein Krankes, und derweil ihr selbst das Herz hämmerte vor Jammer und Grauen, legte sie neues Feuer an im Ofen und braute ein Teelein aus Lindenblust, daß es der Mutter wohler wurde, und dann holte sie die Heilige Schrift und las daraus, und die ewigen, trostreichen Worte, solche sie oft aus Johannes’ Mund vernommen mit gläubigem und frohem Klang, legten sich beschwichtigend auf ihr eigenes Herz und brachten auch der Mutter Beruhigung, daß sie schließlich überwältigt von Erschöpfung und Schmerz einschlief.
Da erschien Heinrich. Er hatte gerötete Wangen, aber frostblaue Hände und zitterte vor Kälte. „Wo kommst du her, Bub?“ rief Anna erschreckt, und während sie seine eisigen Hände rieb und ihn in die warme Ofenecke zog, flüsterte er, und es war ein glückliches Leuchten in seinen Augen:
„Ich hab’ ihn gesehen, den Johannes; jetzt grad ist er zum Himmel gefahren.“
Anna ließ erschreckt seine Hände sinken: „Was sagst du,
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