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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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Wink zum Schweigen, während er wie verlegen an den dünnen Lippen nagte: „Das Opfer,“ fuhr er leise fort, „ist größer als du meinest, maßen es von dir einen Verzicht erheischt, den du nur mit widerstrebendem, wenn nicht gar schwerem Herzen wirst leisten können. Ich traue aber, daß du dich auch hierin, wie allezeit, als meine tapfere Tochter erzeigen mögest.“ Und während Anna ihn mit erstaunten Augen und wachsender Erregung betrachtete, berichtete er weiter von einer zweiten Botschaft desselben Briefes, dahin gehend, daß die Marquise, deren durch den harten Winter geschwächte Kräfte nach der Sonne verlangten, wünsche, Anna auf eine italienische Reis’ und zu längerem Aufenthalt in südlichen und kunstreichen Städten mit sich zu nehmen.
    Der Amtmann schwieg. Anna schloß die Augen. Italien! Giulios Stimme klang wieder, all die halbvertrauten, süßen, herrlichen, unsäglich heißbegehrten Bilder umkreisten sie, und die Marquise erschien ihr, die Frau, die sie liebte und verehrte wie kaum einen andern Menschen, die ihr vorkam wie die Türöffnerin zu allem Großen und Vollendeten, wie die Erlöserin von jeglicher Halbheit des Könnens. Ihr Kopf brauste … Aber da vernahm sie wieder des Vaters Stimme. Diesmal redete er von ihr selbst. Wie nötig sie sie hätten auch sonst, sie alle, und daß er sich sein Haus nimmer ohne sie denken könnt’. Anna horchte auf: Was war das für ein seltsamer Ton an ihrem Vater? So ungewohnt liebevoll, fast weich. Sie schlug die Augen auf und erhob sich langsam: „Ja, Vater, ich bleibe,“ sagte sie bestimmt, dann verließ sie das Zimmer. Unter der Tür wandte sie sich noch einmal: „Wenn Ihr dem Rudolf schreibt, einen Brief möchte ich Euch mitgeben, um ihr zu danken, der hohen Frau, für ihre Güte.“
    Langsam erstieg sie die Treppe mit sorgfältigen kleinen Schritten, als ob sie eine heikle Last hätte aufwärtstragen müssen, und dabei summte ihr fortwährend lästig und lächerlich jener Spruch auf dem alten Holzschnitt um den Kopf: „Glaube, leide, forsche, hoffe ist allhier das Symbolum, wer’s zu praktizieren weiß, der versteht sein Christentum — Glaube, leide …“
    Droben in ihrer Malstube sank sie müde auf einen Stuhl. Ja, es war dunkel, dieses Gemach, besonders jetzt, da der Abend heraufkam — Herrgott, der Abend vor der langen Nacht! — Und es war auch einsam, trostlos einsam. Fiel ihr das heute zum ersten Mal auf? Wohl; denn — richtig — nun waren ja die Brücken abgebrochen nach drüben, wo die Helle war und die Weite und das Leben. Rudolf ging nun auch so weit fort. War sie nicht wie auf einer Insel, abgetrennt und auf sich selbst gestellt mit ihrer armen halbfertigen Kunst und ihrer Sehnsucht nach Vollendung? So einsam …
    Und doch tat ihr die Einsamkeit wohl, gerade in diesen Tagen, und sie war froh, daß die andern sich nicht um sie kümmerten, dieweil ein jedes mit sich selbst genugsam zu tun hatte, und daß sie es nicht achteten, wenn die Schatten unter ihren übernächtigen Augen sich tiefer malten. Liebevolle Teilnahme, das hätte sie jetzt am allermindesten ertragen können. Unter jeder zarten Berührung hätt’ es hervorbrechen müssen, was sie so mühsam verbarg und unter solchen Schmerzen verwand. Ja, sie war dem Vater dankbar, daß er gleichgültig tat und unberührt. So war es recht. Dann kam Rudolfs glücklicher Dankbrief, ein wenig gerührt, ein wenig übermütig auch in Erwartung des neuen Lebens. Die Marquise aber schrieb nicht. Ja, die Brücken, die waren nun wohl abgebrochen, und es hieß sich einrichten, da, wo man war, für bleibend.
    Die Aufträge kamen und häuften sich. Anna saß nun wieder den ganzen Tag in ihrer Malstube und arbeitete, unaufhörlich, und keine Aufgabe war ihr zu mühselig und keine zu gering. Warum hätte sie neben der Malerei nicht auch die Schönschreibekunst betreiben sollen? Das alles trug Geld ein, und verdienen wollte sie nun vor allem, damit doch wenigstens der geliebte Bruder das haben konnte, ganz haben konnte, was sie dahingeben gemußt. Warum also sollte sie nicht auch Diplome verfertigen? Herr Werner sah es ja nicht und Herr Morell nicht und Giulio nicht und — nicht die Marquise, ja, und der kleine Stich in der Brust, jedesmal, wann sie an derlei Werk sich machte, daran gewöhnte man sich wohl mit der Zeit. Warum sollte sie nicht Epitaphien schreiben mit fürchterlichen, verlogenen, ellenlangen Versen und Kränzlein drum herum malen, die ihr im Angesicht der papiernen Dichterei

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