Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
„Wann du wüßtest wie oft er bei mir ist und wie herrlich er geworden ist und wie wir uns verstehen …“
Anna streichelte fast verlegen der Schwester dünne Hände, und dann mahnte sie zum Aufbruch und führte die Schwache schweigend durch die steilen winkligen Gäßchen nach der Wohnung zurück. Lisabeths Worte waren ihr unsäglich peinvoll und machten ihr viel Sorgen, und erst nach und nach, als sie sah, wie die Schwester sich mit den wachsenden Kräften langsam wieder ins altvertraute Geleise zurückfand und sie sich überzeugte, daß ihr Geist klar war und unverwirrt wie früher, fiel die Angst von ihr ab. Aber Lisabeths entrücktes überirdisches Wesen trat doch wie etwas Fremdes trennend zwischen die beiden Schwestern, während Heinrich mit einer Art neugieriger Verehrung sich an die Genesende anschloß.
Und alles kam wieder ins Geleise, nach und nach, und auch der Tag erschien, da Anna wieder ihre Malstube beziehen konnte, an den Nachmittagen wenigstens. Wie hatte sie sich nach dieser Stunde gesehnt in den langen schweren Zeiten, da zwischen ungeliebter Arbeit und heißer Not das Verlangen nach ihrer Kunst ihr schier das Herz versprengte! Nun aber saß sie zwischen dem lieben Gerät müde und ohne Schaffenslust, eingeschüchtert von ihren eigenen hohen, ach, so geliebten Plänen, und ohne die Kraft zum frischen mutigen Anschluß. Aber die Aufträge, die man der im Ausland zu Ruhm gelangten jungen Mitbürgerin nicht länger vorenthielt, trafen ein und zwangen sie auf nüchternen Wegen langsam wieder in die alte Beschäftigung.
Eines Tages wurde Anna auf des Vaters Schreibkammer gerufen, und da der Amtmann solches nur in sonderbarlichen Fällen tat, betrat sie ein wenig bang und nicht ohne Neugier die dunkle Stube, die sie gleich mit einer Reihe unerquicklicher Kindheitserinnerungen überfiel. Der Vater bedeutete ihr, zu warten, und während er ein umfängliches Schreiben mit feinbewegter Hand zu Ende führte, trat Anna vor einen alten Holzschnitt, der in schwarzem Rahmen neben dem Fenster hing, und betrachtete angelegentlich das kleine Bild, das sie schon als Kind gemüht hatte und das in drolliger Weise die beiden Reformatoren Luther und Zwingli, ausgestattet mit den Insignien ihrer Glaubenslehr, einander gegenüberstellte. Und wieder, wie als Kind, freute sie sich an Zwinglis herber, sehniger Gestalt, die dem rundlichen, mit Faszikeln schwer bepackten und zu gläubigem Dulden auffordernden Luther resolut Anker und Waage und den Weckruf: „Gott lebt ja noch!“ entgegenhielt. Unter den Holzschnitt hatte der alte Künstler als Summa der Darstellung das beherzigenswerte Wort gesetzt:
„Glaube, leide, forsche, hoffe ist allhier das Symbolum:
Wer ’s zu prakticieren weiß, der versteht sein Christentum.
Eitler Streit der Disputanten ist nicht eine Bohne wert,
Weil durch alle Federkriege gar kein Mensche wird bekehrt.“
Wie eine Melodie summten diese lustig hüpfenden Verse der ungeduldig Wartenden durch den Kopf, bis der Vater endlich den Brief abschloß und sich ihr zuwandte. Er gebot ihr, sich zu setzen, und dann erzählte er mit leisen und ein wenig hastigen Worten, derweil eine ungewöhnliche Erregung auf seiner weißen Stirn sich vernehmlich malte: ein Brief aus Braunfels sei eingetroffen; Rudolf vermelde, es sei ihm eine Stell angeboten worden als Feldprediger in holländischen Diensten, und daß er große Lust hätte, selbige anzunehmen, weilen ihm der fürstlich Dienst, vorab die Schulmeisterei, nimmer behage, die Fremde aber und sonderlich das kriegerische Leben ihn gar mächtig anzögen. Und auch der Amtmann meinte, daß er solches als ein großes Glück für seinen Sohn erachten würde, da nichts wie strenger Kriegsdienst und die Ansehung fremder Länder geeignet sei, einen unruhigen Geist zu Ordnung und Einsicht zu bringen, wessen sein Sohn gar sehr bedürfe. Da nun aber ein junger Mann in solcher Charge ohne bedeutenden Zuschuß von daheim nicht standesmäßig existieren könne, erwachse ihm daraus eine Last, so er im Angesicht der durch Teurung beschwerten geldöden Zeiten nicht wohl übernehmen könne, ohne sein Vermögen zu schädigen, was er hinwiederum in Besorgung der andern Kinder und fürnehmlich der beiden unverheirateten Schwestern nicht tun dürfe. An ihr liege es nun, dem Bruder dieses Glück zu vermitteln, wenn sie den aus ihrer Malerei gezogenen schönen Erlös ihm zuwendete. Mit freudiger Zustimmung wollte Anna ihm ins Wort fallen; aber der Amtmann brachte sie mit raschem
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