Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
bist nicht bei Trost!“ Aber er fuhr fort in demselben geheimnisvollen Ton:
„Vom Dach aus hab’ ich hinuntergeschaut immer nach des Kambli Haus, immer nach seinem Haus, und auf einmal hab’ ich den Schein gesehen, einen weißen Schein; von dem Haus kam er und stieg hinauf geradwegs in den Himmel, und sah ich wohl, daß es kein gewöhnlich Licht war, wohl aber des guten Johannes ewige Seel.“ Er schwieg einen Augenblick, dann lachte er vor sich hin: „Freuen wird sie sich, die Lisabeth; nun weiß sie ganz gewiß, daß er die Seligkeit gefunden.“
Anna sah den Bruder besorgt an. Einen rechten Kummer machte er einem, der Bub, aufgeschossen und zart, wie er war, und dann immer diese Grübelei und Phantasterei — und sie bemühte sich wieder um seine kalten Hände und Füß.
Am Morgen kamen die beiden zurück, fast so stumm, wie sie gegangen. „Es war ein selig End,“ sagte der Amtmann, und um seinen knappen Mund ging ein eigentümliches Zucken; „niemalen habe ich so etwas gesehn oder bei einem armen Sterblichen auch nur für möglich gehalten.“ In Lisabeths tiefen Augen lag ein neuer, verklärter Zug, und sie lächelte schier glücklich zu des Vaters Worten. Von Anna ließ sie sich zu Bett bringen wie ein Kind und versank auch alsobald in einen tiefen Schlaf.
An einem föhnigen, lenzhaften Februartag ward Johannes Jacobus Cramer bestattet, draußen auf dem neuen Friedhof vor dem Lindentor, und ward seiner Leich viel und absonderliche Ehr angetan, dieweil man ihn sowohl seiner Jugend und freundlichen Art als auch seiner großen Gelehrte wegen allenthalben betrauerte. Nicht allein in der Vaterstadt, auch zu Herborn, wo der wackere Professor Schrammius in der Akademie daselbst öffentlich einen schönen Leichsermon hielt, der später, in Druck gegeben, auch zu den Zürchern gelangte. Wie stark aber der Ruhm des jungen Gelehrten selbst nach äußeren Orten gedrungen, zeigte jenes Schreiben, das der Zürcher Rat in eben jenen Tagen erhielt, als der arme Johannes im Todbett lag, und darin Burgermeister und Rat der löblichen Stadt Leyden den jungen Zürcher als Professor theologiae an die dortige Hochschule beriefen.
Von all dem Ruhm und vielen Gerede, das über den Toten ging, vernahm Elisabeth nichts. Der tiefe Schlaf, darein sie die Erschöpfung der Todesnacht geworfen hatte, war in schlimmes Fieber übergegangen, das ihre zarten Kräfte zwischen Glut und Frost, zwischen Wachen und Wahn, zwischen Tod und Leben hin-und herpeitschte.
„Hab’ ich’s nicht gesagt, daß es so kommen müsse,“ sagte Esther mit schier befriedigtem Ton in ihrer Betrübnis. Und Maria strich der Fiebernden über das feuchte Haar: „Gut ist es, Liebe, das führt zu Erlösung und Genesung, so oder so.“ Anna aber saß am Bett der Schwester und half ihr und pflegte sie und kämpfte um sie Tag und Nacht.
Ah, die grauenvollen Nächte, wann draußen der Föhn mit heißem, aufwühlendem Atem und heißem, aufwühlendem Gesang durch die Gassen stürmte und Elisabeth mit irren Augen und brennenden Lippen seltsame, süße und furchtbare Dinge redete zu einem, der nicht da war, und wann sie zu singen versuchte — mit solch herzzerreißender Stimme … Und später die langen bangen Tage, als das Fieber gesunken war und die Kranke dalag, weiß und teilnahmlos wie ohne Leben, und man nie wußte, wie lang das erschöpfte Herz noch schlagen würde und ob es noch schlug.
Aber Anna harrte aus, Tag und Nacht, kühlte den brennenden Leib der Fiebernden und führte dem erschöpften Körper durch sorglich bereitete und gereichte Nahrung neue Kräfte zu und achtete es nicht, wenn ihre eigene Kraft von all den rastlosen Mühen und Herzensangst langsam aufgesogen wurde.
Als sie zum ersten Mal mit Lisabeth ausgehen konnte, um Cramers Grab aufzusuchen, sah sie fast so durchsichtig aus wie die Genesende, und die mitleidigen Blicke der Vorübergehenden galten ihr kaum weniger als der andern.
Anna hatte sich gefürchtet vor diesem ersten Gang aufs Grab; aber Elisabeth begrüßte mit eigentümlicher, beinahe heiterer Ruhe den frischen Hügel. Mit zärtlichen Händen strich sie über die kleinen Frühlingsblumen, die zwischen magerem Immergrün einen gelben und blauen Flor ausbreiteten. „Gar ein lieber kleiner Garten ist es,“ sagte sie leise; „seine Freud wird er daran haben, mein Johannes … Nicht der da unten,“ wandte sie sich dann wie erklärend an Anna, „der andere, der wahre Johannes!“ Und sie lächelte träumerisch vor sich hin:
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