Die Geschichte der Deutschen
Kanzler erwägt sogar ernsthaft einen Staatsstreich – die Außerkraftsetzung der Verfassung –, der ihn für den jungen Kaiser unentbehrlich machen würde.
Wilhelm II. lehnt Bismarcks Kurs ab. Er will seine Regierungszeit nicht mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen beginnen. Am 14. Mai empfängt er eine Delegation der Streikenden und zeigt Verständnis für die soziale Situation der Bergleute |180| . Dann ermahnt er die Arbeitgeberseite, deren Forderungen entgegenzukommen, und befürwortet einen Ausbau der Arbeitsschutzgesetze. Bismarck macht einen Rückzieher, gibt aber nicht auf. Er legt dem Reichstag eine verschärfte Fassung der Sozialistengesetze vor, über deren Verlängerung die Abgeordneten demnächst zu entscheiden haben. Wilhelm fordert im Kronrat eine Milderung der Bismarck-Vorlage, was der Kanzler ablehnt. Sein Sturz ist jetzt nicht mehr aufzuhalten. Der Reichstag stellt sich gegen eine Verlängerung der Sozialistengesetze, woraufhin Bismarck ihn kurzerhand auflöst. Wilhelm kontert, indem er zwei Erlasse veröffentlicht, die eine Erweiterung der Arbeitsschutzgesetze ankündigen, ohne die erforderliche Gegenzeichnung des Kanzlers zu berücksichtigen. Eine schwere Brüskierung Bismarcks. Zwanzig Tage später wird ein neuer Reichstag gewählt. Die bisher die Kanzlerpolitik unterstützenden Parteien – Nationalliberale und Konservative – erleben eine verheerende Niederlage, während die SPD nach der Zahl der Stimmen zur stärksten Partei aufsteigt.
Der Kaiser bestellt Bismarck in frostiger Form zur Audienz und es kommt zu einer heftigen Auseinandersetzung. Am 18. März 1890 reicht der Reichsgründer sein Entlassungsgesuch ein, dem der Kaiser am 20. März seine Zustimmung gibt. Für die Öffentlichkeit spielt Wilhelm noch ein bisschen die große Bedauerungsoper, während der Kanzler verbittert den Zug nach Friedrichsruh besteigt. Eine Ära ist zu Ende gegangen und das »persönliche Regiment« Wilhelms II. beginnt.
Bismarck, der immer schon ein großer Hasser gewesen ist, verfolgt im Ruhestand jeden kaiserlichen Schritt mit hämischen Bemerkungen und kritisiert öffentlich seine Nachfolger im Kanzleramt und damit indirekt den Monarchen. In seinen Gedanken und Erinnerungen stilisiert er sich als nahezu unfehlbaren Politiker und Diplomaten. Er versteht es meisterhaft, an seiner Legende zu stricken. Bei den Familienmahlzeiten trinkt und isst er noch unmäßiger als in seinen Amtsjahren. Aber als Johanna stirbt, wird es einsam um den einst mächtigsten Mann im Reich. Krankheit und Schmerzen überschatten die letzten Jahre.
Wilhelms Erleichterung nach dem politischen Abgang Bismarcks ist groß. Endlich kann er ohne Rücksicht auf die übermächtige Gestalt im Kanzleramt regieren. Zum Nachfolger ernennt er einen General, Graf Leo von Caprivi, der zwar besser ist als sein späterer Ruf bei den Historikern, aber natürlich einem Vergleich mit Bismarck nicht standhalten kann. Muss er auch nicht, denn regieren will ja jetzt der Kaiser. Seine Kanzler – und von denen verschleißt er viele – sieht er als Erfüllungsgehilfen, als Männer, die auszuführen haben, was er befiehlt |181| . Caprivi tritt nach vier Jahren zurück. Sein Nachfolger wird der alte, ehrgeizlose Chlodwig von Hohenlohe-Schillingsfürst. Dem wiederum folgt 1900 der schillernde Bernhard von Bülow, Gesandter in Rom und persönlicher Freund des Kaisergünstlings Philipp von Eulenburg. Wilhelm II. glaubt in ihm seinen Bismarck gefunden zu haben und beginnt die verhängnisvolle »Weltpolitik«. Doch auch Bülow stürzt und gibt 1909 das Amt an den konservativen Theobald von Bethmann Hollweg weiter. Die Kanzler nach Bismarck haben mit dem schwierigen, selbstherrlichen Charakter ihres Vorgesetzten zu kämpfen und sich gegen die ständigen Intrigen des Hofstaates zu wehren. Keiner von ihnen ist ein großer politischer Stratege oder Diplomat. Überhaupt zeichnet sich das wilhelminische Führungspersonal nicht gerade durch besondere Weisheit aus. Es trägt ein hohes Maß an Mitschuld für die politischen Entwicklungen, die in den Weltkrieg münden.
Das »persönliche Regiment« Wilhelms dauert bis 1908. Nach einer langen Kette von Peinlichkeiten – die Brüskierung Englands im Burenkrieg, die Hunnen-Rede, der Homosexuellenskandal um Eulenburg – löst die Affäre um das Interview im Daily Express im ganzen Land einen Sturm der Entrüstung aus. Im Reichstag bekräftigt der nationalliberale Abgeordnete Ernst Bassermann, die Außenpolitik gehöre
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