Die Geschichte der Deutschen
ein Monarch, der die technologischen Errungenschaften seiner Zeit begeistert begrüßt und nicht ohne Sachverstand beurteilt. Er ist ein Schulreformer, der sich erfolgreich für den Ausbau des Realgymnasiums einsetzt. Es soll |175| den Schülern das naturwissenschaftliche und technisch-mathematische Wissen zeitgemäß vermitteln und an die Seite des herkömmlichen, Latein und Griechisch paukenden Humanistischen Gymnasiums treten. Das Kaiser-Wilhelm-Institut, aus dem in den kommenden Jahrzehnten die bahnbrechendsten naturwissenschaftlichen Forschungen hervorgehen, trägt den Namen seines Begründers. Neue Maschinen, verbesserte Verfahren beim Kohleabbau oder bei der Stahlerzeugung, die ersten Autos, die ersten Flugzeuge werden vom Kaiser gepriesen. Er besichtigt mit großem Interesse die Kohlegruben im Ruhrgebiet und die Industriewerke, die im Rheinland, in Sachsen oder Oberschlesien aus dem Boden wachsen. Die Archäologie ist sein großes Hobby.
Der Kaiser ist intelligent und seine Interessen sind breit gestreut. Aber er ist sprunghaft. Kein konsequenter Aktenarbeiter, schnell bereit ein Urteil zu fällen, leicht beeinflussbar. Über die Hälfte des Jahres ist er fern von Berlin. Jährliche, wochenlange Fahrten in den hohen Norden auf seiner luxuriösen Yacht, Besuche von Flottenparaden in Kiel oder bei den königlichen Verwandten in England, die Jagd in der ostpreußischen Rominter Heide oder in den Revieren der Habsburgischen Erzherzöge – das alles hält den Monarchen auf Trab. Gegenüber seinem Onkel Nikolaus I., dem russischen Zaren, klagt er voller Selbstmitleid: »Wir armen Herrscher haben keinen Anspruch auf Ferien.«
Er ist eitel. Seine Verkleidungssucht ist grotesk. Zu jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit tritt er in bunten Husaren-, Admirals- oder Generalsuniformen, gelegentlich gar in Schottentracht oder historischer Kostümierung auf. Die Paraden an den Kaisergeburtstagen amüsieren die Berliner. Hoch zu Ross und mit wehendem Helmbusch nimmt der Monarch – an der Seite die wachsende Zahl seiner Söhne – den Vorbeimarsch seiner Truppen ab. In Kiel sind es nicht Soldaten, sondern Kriegsschiffe, die an dem begeisterten Kaiser vorbeiparadieren.
Auf seinen Nordlandfahrten begleiten ihn die Mitglieder des Hofstaates. Der Kaiser traktiert seine Gäste mit pubertären Scherzen und kindischen Spielen. Ein extremer Vorfall spielt sich bei einer dieser Herrentouren ab: Ein alter Militär tanzt vor den amüsierten Mitreisenden im Ballettröckchen und bricht tot zusammen. Homoerotische Gefühle sind dem Kaiser nicht fremd. Sein ihm nächster Freund und wichtigster politischer Einflüsterer, Fürst Philipp von Eulenburg, ist 1908 in einen Homosexuellenskandal verwickelt, der zum Politikum wird und die Position des Kaisers erschüttert. Denn damals ist Homosexualität strafbar. Der englische Dichter Oscar Wilde muss etwa zur selben Zeit deswegen für zwei Jahre ins Zuchthaus.
|176| Wie seine Vorfahren ist Wilhelm vom Gottesgnadentum des Monarchen überzeugt. In einer Festansprache erklärt er: »Dass wir Hohenzollern Unsere Krone vom Himmel nehmen und die darauf beruhenden Pflichten dem Himmel gegenüber zu vertreten haben – von dieser Auffassung bin auch ich beseelt, und nach diesem Prinzip bin auch ich entschlossen zu walten und zu regieren.« So modern er einerseits ist, so rückwärtsgewandt propagiert er die Ideale des Mittelalters. Er lässt einige Burgen, die auf den Rheinhöhen als Ruinen überlebt haben, wieder aufbauen. Bei Danzig entsteht die Marienburg neu, die alte Wehr- und Schutzstätte des Deutschen Ordens im Osten. Vom Vasallentum redet er und vom Treueverhältnis der Untertanen.
Verhängnisvoll wirkt sich der unruhige, schillernde und überhebliche Charakter des Kaisers in der Politik aus. Wilhelm erstaunt die Nachbarn mit seinen arroganten, prahlerischen und häufig peinlichen Reden. Bald verärgert er sie auch. Obwohl im Grunde ein weicher und friedliebender Mensch, übermannt ihn immer wieder ein unerklärlicher Redezwang, der die deutschen Diplomaten ins Schwitzen bringt. Den Engländern erklärt er ungebeten, ohne Not und öffentlich, wie sie im Burenkrieg, der Londons Regierung 1901 im Süden Afrikas in arge Not bringt, vorzugehen haben. Dem Burenführer Ohm Kruger schickt er ein Glückwunschtelegramm, das im englischen Außenministerium Wutanfälle auslöst. Kein Wunder, dass der Bündnisvertrag nicht zustande kommt, den das Kaiserreich gerne mit dem mächtigen Inselstaat
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