Die Geschichte der Deutschen
Zerwürfnis abwenden soll. Aber diese Politik ist nur halbherzig. Immer wieder irritieren die Nachbarn im Westen und im Osten spektakuläre, meist von verbalen Ausfällen des Kaisers begleitete Aktionen der Deutschen.
Es ist das Zeitalter des kolonialen Imperialismus. Die Welt wird immer größer, folglich gibt es immer mehr zu erobern. England, Frankreich, Russland und Italien suchen in allen Ecken der Erde nach neuen Gebieten. Auch Deutschland will nicht zu spät und zu kurz kommen. Togo und Kamerun, Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika sind schon unter Bismarck deutsche »Schutzgebiete«. Unter |185| Wilhelm II. erhalten die Kolonien eine zusätzliche Bedeutung als Marinestützpunkte für die neue Flotte. 1889 unternimmt der Kaiser eine Reise in den Orient. Deutsche Industrielle haben entdeckt, dass das Osmanische Reich ein lukrativer Markt für sie sein könnte. Wilhelm II. überredet den korrupten Sultan Abdul Hamid, den Deutschen den Bau einer Eisenbahnlinie zu übertragen, die über Bagdad bis zum Persischen Golf verläuft. Ein Konsortium unter Führung der Deutschen Bank soll die notwendigen Gelder zusammenbringen. Russland und England fühlen sich vom deutschen Engagement in einem ihrer Interessensgebiete provoziert. Zurück bleibt ein außenpolitischer Scherbenhaufen.
Als 1911 in Marokko Unruhen ausbrechen, verstärkt Frankreich sein Militär in Nordafrika. Das Reich schickt das Kanonenboot »Panther« in den nordwestafrikanischen Hafen Agadir. Eine sinnlose Drohgebärde, die angeblich deutsche Interessen in Marokko sichern soll. Berlin erreicht mit diesem »Panthersprung nach Agadir« jedoch lediglich eine Verschärfung der Krise, die mit einem Rückzug endet. Die Bagdad-Bahn oder die Marokkokrise sind Beispiele dafür, dass das Reich permanent mit den Muskeln spielt und in der Außenpolitik zündelt, ohne eine klare Strategie zu verfolgen. Kein Wunder, dass Berlin am Ende nur noch das schwache Österreich an seiner Seite hat. Die außenpolitische Lage gleicht zunehmend einem Pulverfass. Aber in Deutschland fühlt man sich gut und großartig unter einem Kaiser, der es mit militärischer Macht zu Lande und zu Wasser der ganzen Welt beweisen will.
1908 leiht sich der kürzlich aus dem Gefängnis entlassene arbeitslose Schuster Wilhelm Voigt eine Hauptmanns-Uniform. Auf einer Berliner Bahnhofstoilette zieht er sich um, betritt in zackiger Haltung wieder die Straße und hält einen vorbeimarschierenden Rekrutenzug an. Der »Hauptmann« fordert die Soldaten im barschen preußischen Kasernenton auf, ihm zu folgen. Im Rathaus von Köpenick lässt er den Bürgermeister kommen und befiehlt, ihm unverzüglich die Gemeindekasse zu übergeben. Der Beamte salutiert und folgt der Anordnung. Der Rekrutenzug macht auf Befehl des Hauptmanns kehrt und zieht mit ihm im Gleichschritt ab. Nach wenigen Minuten werden die Soldaten zum Weitermarsch in die Kaserne entlassen. Als die Geschichte herauskommt, lacht ganz Deutschland. Auch der Kaiser. Er begnadigt Voigt, nachdem dieser einen kleinen Teil seiner Gefängnisstrafe abgesessen hat. Das Beste an der Geschichte ist des Kaisers Begnadigung. Nichts kann den Untertanengeist und die Unterwerfung des wilhelminischen Bürgers unter die Macht der Uniform besser illustrieren als diese Komödie.
Im Jahr 1913 feiert Wilhelm II. mit großem Pomp sein 25-jähriges Thronjubiläum |186| . Niemand zweifelt in diesen Festwochen daran, dass sein Reich vor einer glänzenden Zukunft steht. Deutschland stellt inzwischen die meisten naturwissenschaftlichen Nobelpreisträger. Kein anderer Staat kann ein solches Schul und Universitätssystem aufweisen. Die Wirtschaftszahlen verkünden Weltrekorde. Die Sozialgesetzgebung bleibt weltweit unerreicht. Die deutsche Sozialdemokratie ist in Europa die mächtigste Arbeiterpartei, auf den Konferenzen der sozialistischen Internationale führt sie das Wort. Bei den Reichstagswahlen von 1912 stellt sie die stärkste Fraktion im Parlament. Haben sich also nicht auch die Arbeiter mit dem Reich abgefunden? Steht die Welt nicht nach den spanischen, französischen und englischen Jahrhunderten jetzt vor einer herrlichen deutschen Ära? Hätte jemand im Jubiläumsjahr des Kaisers erklärt, in fünf Jahren werde dieses Reich in Blut und Schlamm untergehen, das Land werde bitterste Not leiden und die in Generationen ersparten Vermögen fast aller wohlhabenden oder sogar reichen Bürgerfamilien werden sich innerhalb von vier Jahren in ein Nichts auflösen – man
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