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Die Geschichte der Deutschen

Die Geschichte der Deutschen

Titel: Die Geschichte der Deutschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm von Sternburg
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allein in die Hände des Reichskanzlers. Selbst die Konservativen veröffentlichen eine Erklärung, in der Wilhelm II. zur Mäßigung aufgefordert wird. Der Journalist Maximilian Harden, in dessen Zeitschrift Die Zukunft die homoerotischen Neigungen Eulenburgs erstmals publik gemacht worden sind, schreibt in diesen aufgeregten Tagen: »Wir haben genug ... Wir wollen nicht Tag vor Tag in unserem Kulturgefühl gebildeter Europäer durch Rede und Schrift beleidigt sein. Wir wollen Staatsgeheimnisse wahren. Fremden weder schmeicheln noch drohen. Unwahrhaftigkeit, Gaukelspiel, Byzantinerprunk verächten. Wieder bündnisfähig werden.«
    Der Kaiser, der so gerne selbst regiert, steht der öffentlichen Empörung hilflos gegenüber, reagiert entsetzt und depressiv auf den Hagel von Vorwürfen, der auf ihn niedergeht. Er wähnt sich unschuldig, da der Reichskanzler und das Außenministerium das Interview vor dem Abdruck gesehen und nichts gegen die Veröffentlichung eingewendet haben. Ein Jahr später rächt sich der tief gekränkte Wilhelm und entlässt Bülow. Zwar legt sich die Aufregung bald wieder und der Monarch übt sich in ungewohnter Zurückhaltung, aber das kaiserliche Prestige ist angeknackst.
    Auch in der Innenpolitik bekommt Wilhelm Probleme. Obwohl sein »Neuer Kurs« seit 1890 darauf abzielt, einen sozialpolitischen Ausgleich zu schaffen, |182| wahrt vor allem die Arbeiterschaft trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs Distanz. Die vom Kaiser öffentlich immer wieder geäußerte Verachtung ihrer Organisationen trägt ein gutes Stück dazu bei. Zudem weigert sich Wilhelm beharrlich, beim jährlichen Empfang der Reichstagsmitglieder die sozialdemokratischen Abgeordneten einzuladen. Sie bleiben für ihn und die Hofgesellschaft, für die Militärführung und den ostelbischen Adel unzuverlässige Untertanen, radikale Umstürzler und bald macht das Wort von den »Vaterlandsverrätern« die Runde. Zu den unüberbrückbaren Widersprüchen der wilhelminischen Zeit gehört die permanent steigende Zahl sozialdemokratischer Wähler auf der einen und die stets verfolgte konservative, autoritäre Regierungspolitik auf der anderen Seite.
    Am 1. Januar 1900 tritt das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft, das der Reichstag 1896 verabschiedet hat. Es zählt zweifellos zu den großen Errungenschaften des Kaiserreiches. Auch der weitere Ausbau der Sozialgesetzgebung, dem die SPD zustimmt, gehört auf die Haben-Seite der politischen Entwicklung. Die Wahlrechtsreform in Preußen, die das antiquierte und jeden demokratischen Fortschritt bremsende Dreiklassenwahlrecht im größten Land des Reiches abschaffen soll, scheitert dagegen am unnachgiebigen Widerstand der Konservativen. Welche grotesken Ergebnisse das herrschende Wahlrecht bringt, zeigt beispielsweise die Wahl zum preußischen Abgeordnetenhaus von 1908. Die beiden konservativen Parteien erreichen knapp 16,7 Prozent der Stimmen. Durch die unterschiedliche Gewichtung der Stimmen nach Wahlklassen bringt ihnen das einen Mandatsanteil von 47,8 Prozent oder 202 der insgesamt 443 Sitze. Die Sozialdemokraten erreichen mit der Gesamtstimmenzahl von 23,8 Prozent mit Abstand das beste Ergebnis dieser Wählerentscheidung. Es bringt ihnen aber nur 1,58 Prozent der Mandate, also sieben Abgeordnetensitze ein. Auch wenn für das Reich das allgemeine Wahlrecht gilt, in Preußen garantiert das Dreiklassenwahlrecht dem ostelbischen Adel und den anderen konservativen Kräften den Machterhalt.
    Eine besondere Rolle im Reichsverband spielt Elsass-Lothringen. Deutschland denkt gar nicht daran, um die Bewohner dieser ehemaligen französischen Provinzen zu werben. Die Bevölkerung kann zwar seit 1874 an den Reichstagswahlen teilnehmen, aber als einziges Reichsland besitzt es keine eigene Volksvertretung. Im November 1913 kommt es in der elsässischen Garnisonsstadt Zabern zu einem Zwischenfall, der zeigt, mit welcher Arroganz die Militärs inzwischen im Reich auftreten. Ein junger preußischer Leutnant beleidigt während einer Exerzierstunde in der Kaserne die anwesenden einheimischen Rekruten. Es ist der Funke, der die angespannte Beziehung zwischen Militär und der |183| Bevölkerung zur Explosion bringt. Demonstrationen und antipreußische Kundgebungen sind die Antwort. Die Truppen greifen mit Mitteln ein, die in keinem Verhältnis zum Verhalten der Zivilbevölkerung stehen. Trotz der willkürlichen Verhaftungen weigern sich der Kaiser und die Armeeführung, die beteiligten Offiziere abzuberufen und

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