Die Geschichte der Deutschen
Entschädigungszahlungen noch einmal zur Diskussion stehen. Wieder kann Berlin erhebliche Verbesserungen durchsetzen. Am 3. Oktober 1929 stirbt der seit langem schwer herzkranke Stresemann. Tausende folgen dem Sarg, als der Außenminister zu Grabe getragen wird. Es wird die letzte große Demonstration der Republik sein.
Die Nationalisten und Konservativen haben Stresemanns Politik verteufelt und mit allen Mitteln bekämpft. Ausgleich und Frieden sind für sie keine politischen Ziele. »Stresemann-Verwesemann« wüten die Nationalisten, und die Kommunisten sehen in ihm den Kapitalistenknecht, den es zu bekämpfen gilt. Die Welt jedoch erkennt, dass hier ein Politiker eines anderen Deutschland gewirkt hat: 1926 wird ihm – zusammen mit seinem Verhandlungspartner in Locarno, dem französischen Außenminister Aristide Briand – der Friedensnobelpreis verliehen.
Es ist nicht zuletzt Stresemanns Politik, die zu einer Phase relativer Stabilität führt. Nach den bürgerkriegsähnlichen Nachkriegsjahren beruhigt sich die Lage. Das Ende der Inflation und die Zustimmung zum Dawes-Plan öffnet das Land für dringend notwendige amerikanische Kredite. Ein Aufschwung der Konjunktur ist zu beobachten, die Zahl der Arbeitslosen sinkt. Die Radikalen werden zurückgedrängt, bei den Reichstagswahlen im Dezember 1924 erreichen die Nationalsozialisten 2,9 und die Kommunisten 8,9 Prozent. Es beginnen die Goldenen Zwanziger. Die Menschen atmen auf, ihr Geld ist wieder etwas wert und die Straßenkämpfe sind gestoppt. Zumindest in den Großstädten will man das Leben nach langen Kriegs- und Revolutionsjahren endlich genießen.
Berlin wird zur attraktivsten Hauptstadt Europas. In den Tanzpalästen und Revuetheatern fallen die Hüllen, und die Tänzerin Josephine Baker erlangt als »schwarze Venus« Weltruhm. Grelle Jazz-Rhythmen und der Modetanz Charleston begeistern die Bubikopf-Damen und ihre Begleiter. Der Drogenkonsum gehört zum guten Ton. Es wird wild durcheinander geschlafen, und wer unter den |213| Intellektuellen etwas auf sich hält, hat mindestens eine homoerotische Beziehung. In der Staats- oder in der Krolloper führen die Dirigenten Otto Klemperer und Ernst Kleiber die neuesten Werke des Musiktheaters auf – Ernst Kreneks Johnny spielt auf, Alban Bergs Wozzek oder Franz Schrekers Der singende Teufel. Ein junger Wilder erobert die Theaterbühnen. Er kommt aus Augsburg und heißt Bert Brecht. Seine Dreigroschenoper, zu der Kurt Weill eine hinreißende Musik schreibt, wird 1928 zum Sensationserfolg. Über Nacht wird die Schauspielerin Marlene Dietrich mit dem Film Der blaue Engel ein Kinostar. 1929 veröffentlicht ein völlig unbekannter Journalist einen Roman, der zum größten Bucherfolg der modernen Literaturgeschichte wird. Im Westen nichts Neues lautet der Titel des Buches, das von den Erlebnissen der »verlorenen Generation« im Ersten Weltkrieg erzählt. Innerhalb eines knappen Jahres sind eine Million Exemplare verkauft und der Autor Erich Maria Remarque wird ein reicher Mann. In Weimar ist der Sitz des Bauhauses, jener berühmten Hochschule für Gestaltung, wo der Architekt Walter Gropius, die Maler Oskar Schlemmer und Lyonel Feininger oder der Designer Wilhelm Wagenfeld neue Horizonte für Form und Farbe öffnen. Nach all dem Rausch der Dekadenz-Kunst, nach DA-DA-Grotesken und expressionistischer Wucht kommt nun die neue Sachlichkeit: Funktional und nüchtern sollen Häuser und Industrieanlagen, Möbel und Gebrauchsgegenstände wirken.
Berlin ist die Zeitungsstadt der Republik. Hier pulsiert das Leben. Die Vossische Zeitung, das Berliner Tagblatt und die zahllosen Morgen-, Mittag- und Abendblätter machen Politik, preisen den Boulevard und vor allem natürlich den Sport – selbst am Boxring trifft sich tout Berlin. Die Zeitungen erreichen Millionenauflagen. Erstmals fühlen sich dadurch die Parteien in ihrem Handeln einem starken und breiten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Eine zwiespältige Sache: Einerseits kann die Presse eine Öffentlichkeit schaffen, die die junge Demokratie dringend braucht, andererseits häufen sich bald die politischen Hetzkampagnen, die nun gleichfalls flächendeckender als je zuvor verbreitet werden. Eine offizielle Zensur wie in den Metternich-Tagen gibt es nicht. Aber die Regierungen, allen voran das Reichswehrministerium, überziehen die Redaktionen mit Prozessen. Wegen »Geheimnisverrats« beispielsweise muss nicht nur der Chefredakteur der Weltbühne, Carl von Ossietzky, ins
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