Die Geschichte der Deutschen
Professoren oder adlige Grundbesitzer ihre Häuser für Schleuderpreise, die sofort von der unersättlichen Inflation verschlungen werden, verkaufen. Generalswitwen vermieten Zimmer und ehrbare Bürgertöchter oder Kinder sind gezwungen, sich auf der Straße zu verkaufen. Die Kindersterblichkeit nimmt erschreckend zu, und in den Arbeiterfamilien herrscht Hunger. Auf der anderen Seite protzen die Spekulanten und Schieber, die das Elend und die Geldentwertung für ihre dunklen Geschäfte nutzen. Der Ruhrindustrielle Hugo Stinnes kauft sich durch geschickte Transaktionen ein riesiges Aktienvermögen zusammen und kann damit auch erheblichen Einfluss auf die politischen Entwicklungen nehmen.
Für die Weimarer Republik wird die Inflation zu einer schweren Hypothek. Sie hat alte moralische Wertvorstellungen zerstört. Der bürgerliche Mittelstand verbindet mit der Demokratie bald nur noch seinen ganz persönlichen Sturz in die »Proletarisierung«. Als dann nach 1930 eine neue Verelendung droht, vertrauen immer weniger Menschen den Rezepten der republikanischen Parteien. Die Inflation von 1923 ist bis in unsere Tage hinein ein Trauma geblieben. Sie wird noch die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik prägen. Und als der Euro eingeführt wird, haben viele aus der Generation unserer Großeltern Angst, dass |211| ohne die stabile D-Mark jene »schlechten Zeiten« zurückkehren könnten. Kein deutscher Finanzpolitiker kann es sich – wie seine Kollegen in Frankreich oder Italien – leisten, leichtfertig über die Preisentwicklung hinwegzusehen.
Gustav Stresemann (1878–1929)
Auch wenn er nur drei Monate Reichskanzler ist, gehört Gustav Stresemann zu den wenigen herausragenden Politikern, die in der Weimarer Republik gewirkt haben. Als Sohn eines Bierverlegers in Berlin geboren, wird er nach seinem Studium Syndikus des Verbandes sächsischer Industrieller. Ein Mann der mittelständischen Wirtschaft ist er, der den Nationalliberalen beitritt. Diese hatten im Kaiserreich zunächst Bismarck gestützt, dann im Zuge der von der Industrie abgelehnten Schutzzollpolitik gegen ihn opponiert. Sie wurden die Partei der Großindustrie und der Großbanken. Für die Nationalliberalen sitzt Stresemann seit 1907 im Reichstag. Er ist ein lauter, zur Polemik neigender Monarchist, der ein imperiales Deutschland mit vielen Kolonien und einer mächtigen Flotte fordert. Im Ersten Weltkrieg gehört er zu denen, die von großen deutschen Gebietsannexionen träumen und sich für einen »Siegfrieden« einsetzen.
Die Niederlage schockiert ihn so wie die meisten seiner Landsleute. Das Ende der Monarchie und die Revolution von 1918/19 lehnt er scharf ab. Stresemann wandelt sich jedoch rasch zum »Vernunftsrepublikaner«. Nur wenige konservative Politiker, die ihre Laufbahn im Kaiserreich beginnen, besitzen diese Klugheit. Er liebt die Republik nicht, erkennt aber, dass die Welt sich gewandelt hat. Wer seine politischen Ideen umsetzen will, darf die Wirklichkeit nicht ausblenden. »Die Frage der Staatsform ist für die Gegenwart eine Tatfrage, diese Tatfrage ist im Sinne der Republik entschieden«, erklärt er schon 1919. »Wir können uns daher der Mitarbeit an dieser Republik nicht entziehen.«
Stresemann gründet die Deutsche Volkspartei, die sich wieder als politische Vertretung der Wirtschaft versteht. Als Ebert ihn zum Reichskanzler ernennt, findet seine Politik die Unterstützung der Sozialdemokraten. Und sein früher Sturz beendet nicht seine politische Laufbahn, im Gegenteil: Nach der überaus erfolgreichen Kanzlerschaft übernimmt er für die nächsten sechs Jahre das Amt des Außenministers.
Gustav Stresemann beginnt 1924 gegenüber den Westmächten seine Diplomatie des Ausgleichs. In Locarno unterschreibt er einen Gewaltverzichtsvertrag mit Frankreich. Unter der Leitung des amerikanischen Bankiers Charles Dawes |212| findet im Sommer 1924 in London eine Reparationskonferenz statt, bei der Stresemann erste erhebliche Verbesserungen für sein Land durchsetzen kann. Im Berliner Vertrag vereinbaren im April 1926 Deutschland und die Sowjetunion ihre Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu verbessern und sich gemeinsam für eine Friedenspolitik einzusetzen. Noch im selben Jahr wird Deutschland Mitglied des Völkerbundes. 1929 tagt in Paris eine neue Reparationskonferenz, die diesmal von dem amerikanischen Bankier Owen D. Young geleitet wird. Der inzwischen todkranke deutsche Außenminister reist im August 1929 nach Den Haag, wo die
Weitere Kostenlose Bücher