Die Geschichte der Deutschen
gescheiterte deutsche Kaufmann Wilhelm Marr – er benutzte erstmals den Begriff Antisemitismus – gründete 1879 die »Antisemiten-Liga«. Sein Buch Der Sieg des Germanentums über das Judentum fand viele Leser.
Durch diese und andere Schriften erhielt die Judenfeindschaft eine andere Qualität. Mit unhaltbaren pseudowissenschaftlichen Thesen berufen sich die Antisemiten fortan auf »rassische« Argumente. Es gibt, so behaupten sie, eine moralisch ethische Hierarchie der Menschheit, die sich in den minder- und den höherwertigen Rassen widerspiegelt. Vermischt sich beispielsweise das Blut der germanischen Heldenrasse mit dem der minderwertigen jüdischen Rasse, dann sind wir, die Germanen, zum Untergang verurteilt. Wir müssen uns also wehren, um zu überleben. Diese völlig unsinnigen, aber weit verbreiteten Ideen |234| bringen den Übergang vom religiösen Hass zur rassischen Ablehnung. Sie beruhen teilweise auf den seit 1870 diskutierten Lehren des englischen Biologen Charles Darwin. Dessen Gedanken über die Evolution der Rassen, die er als »survival of the fittest« beschreibt, werden von den Antisemiten platt verfälscht und missbraucht. Der so genannte »Sozialdarwinismus«, der Anpassungsfähigkeit mit Stärke verwechselt, ist ungemein populär. Politisch spielt der Antisemitismus, gepaart mit dem völkischen Rassegedanken, im Kaiserreich noch keine Rolle. Erst in den Jahren der Weimarer Republik gelingt es den Nationalsozialisten die Ideologie zu einer politischen Kraft zu entwickeln, die direkt nach Auschwitz führt.
Dem Judenboykott der Nazis vom 1. April folgt am 7. April das Gesetz zur »Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«. Alle jüdischen Beamten in den Behörden, in der Justiz oder die Hochschullehrer in den Universitäten werden entlassen. Seit 1934 betreibt das Regime mit großer krimineller Energie die »Arisierung« jüdischer Unternehmen. Seine Vertreter, häufig auch die bisherigen nichtjüdischen Konkurrenten, setzen die Juden so lange unter Druck und bedrohen sie mit der Einlieferung in ein Konzentrationslager, bis sie ihre Warenhäuser, Geschäfte, Handwerksbetriebe oder Immobilien zu Spottpreisen verkaufen. Jüdischen Rechtsanwälten und Ärzten ist es zunächst nur verboten, »arische« Klienten oder Patienten zu beraten und zu behandeln, dann müssen sie ihre Praxen ganz schließen. Wollen Juden ausreisen, belegt sie der Staat mit gewaltigen Steuern und Abgaben, wodurch sie auch den Rest ihres Vermögens verlieren und, falls die Ausreise glückt, mittellos im Exil dastehen. Der Staat und die Betriebsaufkäufer bereichern sich schamlos an den verfolgten jüdischen Mitbürgern. Zu den großen Lügen und Verdrängungen der Nachkriegszeit gehört die Behauptung, man habe von der Verfolgung und Erpressung fast nichts mitbekommen.
Am 15. September 1935 wird auf dem Nürnberger Parteitag das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« verkündet. Es verbietet Ehen und außereheliche Beziehungen zwischen Juden und Bürgern »deutschen Blutes«. Das ebenfalls auf dem Parteitag verabschiedete »Reichsbürgergesetz« fordert von jedem »Arier« einen Nachweis seiner »rassischen Abstammung«. Wer drei Großeltern jüdischen Glaubens hat, gilt als Jude und verliert die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Nürnberger Rassengesetze führen endgültig zur gesellschaftlichen Isolierung der deutschen Juden. Durch den Verlust der Staatsbürgerschaft werden sie rechtlos.
Dann kommt es zur »Reichskristallnacht«. Mit diesem Begriff verharmlost der |235| Volksmund die Gewalttaten, die sich am 9. November 1938 abspielen. Die Nazis inszenieren ein Pogrom, bei dem insgesamt 265 Synagogen niedergebrannt oder demoliert, 7 000 jüdische Geschäfte und 29 Warenhäuser geplündert werden. Mindestens 36 Menschen kommen ums Leben. Goebbels will das – durchaus planvolle – Vorgehen der Nazi-Trupps als eine spontane Reaktion der Bevölkerung hinstellen. Zwei Tage zuvor nämlich hatte der Jude Herschel Grynszpan den deutschen Legationsrat in der Pariser Botschaft niedergeschossen. Aber die Bevölkerung bleibt weitgehend passiv, während die Nazis zuschlagen. Schweigend gehen die Menschen an den zerstörten, mit Glassplittern übersäten Gebäuden vorbei. Einen Tag später werden 11 000 vorwiegend wohlhabende Juden in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen transportiert. Der Staat friert die Beamtenpensionen für Juden ein. Jüdische Jugendliche dürfen keine
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