Die Geschichte der Deutschen
überaus wirksames Druckmittel, um widerspenstige Künstler zur Ordnung zu rufen. Keine Berufschancen gibt es jedoch für die jüdischen Künstler oder Journalisten. Sie können der Reichskulturkammer nicht beitreten. Innerhalb weniger Monate werden sie aus den Zeitungs- und Rundfunkredaktionen entfernt. Jüdische Schauspieler, Regisseure und Orchestermusiker erhalten keine Engagements mehr. Ein großer intellektueller Aderlass findet statt, denn gerade in diesen Berufen sind viele deutsche Juden tätig.
Nach dem Reichstagsbrand setzt eine große Auswanderungswelle ein. Besonders die vom Regime verfolgten Kommunisten und Sozialdemokraten fliehen ins benachbarte Ausland. Aber natürlich vor allem auch zahlreiche deutsche Juden. Der Exodus deutscher Flüchtlinge erreicht bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs insgesamt etwa 400 000 Menschen, 360 000 davon sind Juden. Das Leben im Exil ist hart. Flüchtlinge sind nirgendwo in der Welt willkommen. Der Kampf um einen Pass, die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis ist zermürbend. Die Schriftsteller haben ihre Leser verloren, die Schauspieler ihr Publikum und die Journalisten ihren Beruf. In den meisten Staaten erteilen die Behörden kaum Arbeitsgenehmigungen für die Emigranten. So wird das Exil zu einem permanenten Überlebenskampf. Die ersten Fluchtländer sind Österreich, die Tschechoslowakei, Frankreich, die Niederlande, England und Skandinavien. Als dann der Krieg große Teile Europas in die Gewalt der Nationalsozialisten bringt, müssen die Exilanten unter lebensbedrohenden Umständen in die Vereinigten Staaten von Amerika, nach Mexiko, China oder Neuseeland weiterflüchten. Dass unter den Exilanten die Juden den weitaus größten Anteil stellen, weist auf die rasche Umsetzung des antisemitischen Programms durch die neuen Herren hin. Sie haben es schon vor ihrer Machtübernahme vielfach angekündigt. In Mein Kampf spricht Hitler von den Juden als »Parasit im Körper anderer Völker« und prophezeit düster: »Die Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde dieser Welt und das Ende einer sich ihr ergebenden Menschheit.«
Aus heutiger Sicht sind Hitlers Worte schockierend, damals jedoch sind sie keineswegs neu. Der Judenhass ist älter als der Nationalsozialismus. Schon im Mittelalter wurden die Juden als Sündenbock für alles und jedes verantwortlich gemacht. Und erreichte Volkes Zorn den Siedepunkt, wurden sie hingerichtet wie Joseph Süß Oppenheimer. Ende des 18. Jahrhunderts konnten sich die westeuropäischen |233| Juden zunächst emanzipieren. Am Anfang standen das Toleranzpatent von 1781/82 des österreichischen Reformkaisers Joseph II. und die 1792 von der französischen Nationalversammlung beschlossene Verleihung der Staatsbürgerschaft. In der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1871 wurde die jüdische Mitbestimmung ausdrücklich festgeschrieben. Doch es blieb ein ständig von Rückschlägen bedrohter Kampf mit großen Hoffnungen und nicht minder großen Enttäuschungen. Bis 1918 wurden Juden an deutschen Universitäten nicht zu ordentlichen Professoren ernannt. Die Offizierslaufbahn war ihnen ebenso verschlossen wie eine Position im Staatsdienst.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Antisemitismus in Deutschland auf neue Weise wieder virulent. Die Juden verließen die Ghettos und nutzten die Berufsfreiheit, die man ihnen endlich gewährte. Sie arbeiteten als Ärzte, Rechtsanwälte oder Journalisten. In Literatur, Musik, Malerei oder an den Theatern machten sich jüdische Künstler einen Namen. Im Zuge der Industrialisierung errichteten erfolgreiche jüdische Kaufleute Fabriken und Handelshäuser. Die meisten deutschen Juden arbeiteten jedoch wie Millionen ihrer christlichen Landsleute als Angestellte, Handwerker oder Arbeiter. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung überstieg nie 1 Prozent und doch verstummten die Stimmen nicht, die vor der »jüdischen Gefahr« warnten, bald gar von einer »jüdischen Weltverschwörung« sprachen. Der populärste Historiker des jungen Kaiserreiches und Bewunderer Preußens, Heinrich von Treitschke, erklärte: »Die Juden sind unser Unglück.« Eine Mischung aus beruflicher Konkurrenzangst, Neid und der Suche nach Schuldigen für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fehlentwicklungen schürte die antisemitische Stimmung. Bereits 1853 veröffentlichte der französische Diplomat und wissenschaftliche Dilettant Graf Joseph Arthur Gobineau seinen umfangreichen Essay Die Ungleichheit der Menschenrassen. Der
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