Die Geschichte der Deutschen
Ostfranken zugeschlagen werden, bilden in ihren Grundzügen tatsächlich über die kommenden Jahrhunderte hinweg die Gebiete, die später Frankreich (Westfranken) und Deutschland (Ostfranken) heißen. Das Mittelreich hingegen zerfällt. Um dessen Länder werden Deutsche und Franzosen im Laufe der Jahrhunderte erbitterte Schlachten führen. Mit den Verträgen von Verdun beginnt eine endlose Reihe von Teilungs- und Freundschaftsverträgen, die Europas innere Grenzen immer wieder neu verschieben.
Ludwigs Ostfranken liegt also in den ehemaligen Gebieten des Gesamtreiches östlich des Rheins und in Bayern, wo Regensburg zur Residenz aufsteigt. Ludwig, der 59 Jahre König sein wird, unternimmt religiöse und kulturelle Anstrengungen, die nun bemerkenswerterweise nicht mehr auf das ganze Reich der Karolinger ausstrahlen, sondern weitgehend auf Ostfranken beschränkt bleiben. Er nutzt die Kultur und die Sprache für den politischen Zusammenschluss seiner Stämme. Deshalb werden die Historiker den so lange regierenden Ludwig später mit dem Beinamen »der Deutsche« belegen.
Ein neues Phänomen beginnt im 9. Jahrhundert immer deutlicher hervorzutreten: die Teilung Europas in neue, modernere Regionen, die Jahrhunderte danach zu Staaten werden. Der Universalismus des römischen Imperiums und des karolingischen Reiches, der das Allgemeine betont hat, weicht einer Neubesinnung auf die engere, bald durch eine gemeinsame Sprache und Kultur charakterisierte |34| Lebenswelt des eigenen Stammes und der sich nun stärker zusammenschließenden, unmittelbar benachbarten Völkerschaften.
Es kommt künftig immer dann zu neuen Reichsteilungen, wenn die Erbfolge unter den karolingischen Kaiser- und Königssöhnen umstritten ist. Erst spricht in der Regel das Schwert, dann werden in Verträgen die neuen Grenzen gezogen. 111 Jahre nach der Kaiserkrönung Karls des Großen endet schließlich die krisengeschüttelte Herrschaft der Karolinger in Ostfranken. Die sich jährlich wiederholenden Normanneneinfälle schwächen das Ansehen der Kaiserfamilie ebenso wie die immer wieder ausbrechenden inneren Kämpfe. Während in Westfranken mit Karl dem Einfältigen noch ein echter Karolinger die Königswürde erhält, wird in Ostfranken mit Arnold von Kärnten ein illegitimer Spross des Kaiserhauses König. Sein Nachfolger und unmündiger Sohn Ludwig »das Kind« stirbt 911 – und mit ihm der letzte der Karolinger.
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Eine Blütezeit für Kunst und Kultur, aber eine »finstere« Zeit für die einfachen Menschen
Im Zeitalter der Aufklärung, also im 18. und frühen 19. Jahrhundert, sprechen die Intellektuellen etwas verächtlich vom »finsteren« Mittelalter. Aberglaube und irrationales Denken, religiöser Fanatismus und Unwissenheit, Hunger und Elend, Krieg und Brandschatzungen, Folter und die als »schwarzer« Tod gefürchtete Pest – das ist für die Menschen späterer Jahrhunderte das Mittelalter. Das alles trifft auch zu. Aber es dürfen dabei die großartigen Gegenbilder nicht unterschlagen werden, die die mittelalterlichen Jahrhunderte auszeichnen. Dazu gehören die Kirchenbauten der Romanik und Gotik in Mainz, Worms oder Speyer, Chartres oder Reims und in vielen anderen europäischen Orten. Voller Bewunderung betrachten wir noch heute die Kirchenmalerei, die Stein und Holzskulpturen an den Altären, Kanzeln und Fassaden der Gotteshäuser. Im Spätmittelalter schafft der Bildhauer und -schnitzer Veit Stoß seine unvergleichlichen Altäre; in Nürnberg entstehen die ersten Bilder Albrecht Dürers. Und die Bibliotheken der Klöster, zum Beispiel in St. Gallen, beherbergen die schweren, reich illuminierten Codices, die die Mönche in Handarbeit kopiert haben.
Den mittelalterlichen Kaisern gelingt es, ihre Macht stark auszubauen. Damit entsteht eine neue staatliche und kirchliche Ordnung. Das Geldwesen und der Fernhandel entwickeln sich. In den Häfen der Adria ankern die Schiffe der |35| Händler, die auf den Spuren Marco Polos Seide und Gewürze, vor allem Pfeffer, nach Europa importieren. Die Dreifelderwirtschaft und eine verbesserte Pflugtechnik erleichtern die Landarbeit. Das alles bewirkt einen Aufschwung, der ein beträchtliches Bevölkerungswachstum sowie eine kulturelle Blüte mit sich bringt, die in den Wäldern der wilden Germanen noch undenkbar gewesen wäre.
Schon Karl der Große zieht eine Vielzahl von Bischöfen, Äbten, Künstlern und Gelehrten an seinen Hof, etwa den angelsächsischen Geistlichen Alkuin oder
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