Die Geschichte der Deutschen
des Chrétien de Troye. Sie wurden zur Vorlage für zahlreiche mittelhochdeutsche Werke. Doch als dann später die Nationalisten in Frankreich und Deutschland jeweils für sich Ruhm und kulturelle Größe reklamieren, streiten auch die Philologen einäugig über die mittelalterlichen Dichtungen. Während unsere westlichen Nachbarn im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert darauf bestehen, die deutschsprachigen Autoren hätten |37| lediglich übersetzt, kontern ihre deutschen Kollegen, erst den mittelhochdeutschen Dichtungen sei die tiefere geistige Durchdringung des Stoffes zu verdanken. Den mittelalterlichen Autoren sind solche nationalistischen Eitelkeiten gänzlich fremd. Für sie gibt es diese Grenzen noch nicht – weder in der Politik noch in der Kultur.
Das Mittelalter bringt also eine erste Blütezeit in Sprache, Literatur und Kultur. Aber wie müssen wir uns nun eigentlich das Leben um die Jahrtausendwende vorstellen? Der Alltag sieht in allen europäischen Regionen sehr ähnlich aus. Etwa 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung sind Bauern. Der Lebenslauf der Menschen ist also vom Rhythmus der Jahreszeiten, des Wetters und des Ernteertrages abhängig. Mit aus heutiger Sicht primitiv erscheinenden Werkzeugen und Hilfsmitteln bearbeiten sie den Boden und transportieren sie ihre Lasten. Langstielige Rechen, hölzerne Gabeln und Spaten, mehr steht ihnen kaum zur Verfügung. Vor den Räderpflug oder den zweirädrigen Karren sind Ochsen gespannt, die Ackerschollen werden vor der Aussaat mit Hacken zerkleinert und die Ernte wird mit Flegeln ausgedroschen. Steinhäuser gibt es auf dem Land nur selten. Im Zentrum der Städte und Dörfer stehen die prächtigen Dome und Kirchen, die der Geistlichkeit vorbehalten sind. Im Herbst und Winter sind die Kleidung und das nächtliche Strohlager von Sturm und Regen häufig durchnässt. Auf Missernten folgen Hungersnöte und Epidemien. Schon die einfachste Krankheit kann den Tod bedeuten, eine medizinische Versorgung für den »gemeinen Mann« ist nicht vorhanden. Hilfe gibt es nur in den Klöstern bei den heilkundigen Mönchen und Nonnen oder bei den umherziehenden Wundärzten, Badern und Marktschreiern, die ihre zweifelhaften, oft abergläubischen und magischen Dienste feilbieten. Viele Frauen sterben bei der Geburt ihrer Kinder und auch diesen ist nicht immer ein langes Leben beschieden. Die Kindersterblichkeit ist groß, überhaupt liegt die Lebenserwartung der Menschen bei nicht mehr als 30 oder 40 Jahren.
Die gesellschaftliche Rangordnung ist alles in allem sehr starr und aus der Sicht des mittelalterlichen Menschen von Gott gegeben. Ritter, Beter, Bauern – das sind die drei Stände, aus denen sich die europäischen Gesellschaften zusammensetzen. Adel und Klerus stehen an der Spitze. Die Lohnarbeiter und Handwerker in den Städten und vor allem die Bauern bilden die Masse der Bevölkerung. Reich oder doch zumindest wohlhabend sind neben den Adligen die Ritter und Landbesitzer. Wo es ihnen an materiellen Gütern mangelt, holen sie sich diese mit Gewalt: auf Kriegszügen, bei Überfällen auf die meist schutzlosen Kaufleute, die durchs Land reisen. Immer wieder müssen auch die allerorts nur |38| durch den Schutz der Obrigkeit geduldeten Juden hohe Zahlungen an ihre Landesherren leisten, wenn sie Leben und Geschäft retten wollen. Reich ist, wer die Macht hat. Die Masse der Bauern aber bleibt machtlos und damit arm.
Bestimmend für die mittelalterliche Gesellschaftsordnung ist das Lehnswesen, das Treueverhältnis zwischen den Ständen. Es verpflichtet den Untertanen, seinem Herrn Dienst und Gehorsam zu leisten. Dieser hat ihm dafür ausreichenden Unterhalt zu gewähren und ihn vor der Gewalt auswärtiger Mächte zu schützen. Das gilt für Herzöge, Grafen oder Barone gegenüber dem Kaiser oder König, für den Landadel, zu dem die Ritter gehören, gegenüber den Herzögen und Grafen und natürlich vor allem für die Bauern, die ihren adligen Herren treu ergeben sein müssen. Die Bauern sind zum Frondienst verpflichtet. Sie müssen einen Teil ihrer Ernte abliefern und ohne Entgelt auf den Feldern des Burgherren arbeiten. Bis in die Neuzeit hinein bleiben sie vom Wohlwollen des Adels abhängig. Dieser aber lebt egoistisch, nimmt die christliche Lehre von der Nächstenliebe nur höchst selten ernst und interpretiert seine Verpflichtungen, die sich aus der Lehnsordnung ergeben, überaus einseitig.
Ein besonderes Übel für die Bauern bleibt lange das Jagdrecht der
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