Die Geschichte der Deutschen
wenige Monate nach der Wahl 1965 zeigt sich, dass die Regierung Ehrhard, heimgesucht von einem Konjunktureinbruch und Haushaltsschwierigkeiten, nicht mehr die Kraft hat, die innerparteilichen Spannungen zu bewältigen. Adenauers Nachfolger im Amt wird im November 1966 gestürzt, und es beginnt die dreijährige Große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD. Kanzler wird der baden-württembergische CDU-Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger und Außenminister der Sozialdemokrat Willy Brandt. Innenpolitisch gelingt es der Großen Koalition notwendige Reformen durchzusetzen. In der Deutschland-Politik macht sich Außenminister Brandt an die schwierige Aufgabe, die Beziehungen zur DDR zu normalisieren. Und fern von der großen, offiziellen Politik bildet sich eine neue Kraft, die bald für großen Wirbel sorgen wird: die außerparlamentarische Opposition (APO).
Hintergrund ist die politische Neuorientierung der jungen Generation. Sie wehrt sich gegen das Schweigen von Eltern und Großeltern über das Dritte Reich und seine Verbrechen. Der Auschwitz-Prozess Mitte der sechziger Jahre in Frankfurt hat die schreckliche Wahrheit über die Vernichtungslager offenbart. Berechtigt ist die Empörung der jungen Menschen, selbstgerecht die Art, wie sie sich zu Wort melden, und zu schlicht ihre Schwarz-Weiß-Malerei, mit der sie die historischen Fakten interpretieren: Schuld sind die Nazis, Schuld sind die Kapitalisten, die einzig wahre Alternative ist der Marxismus. Das Schlagwort vom »demokratischen Sozialismus« wird populär.
Zunächst sind die Proteste völlig harmlos, aber ebenso fantasievoll wie symbolhaltig. Es gibt Sit-ins, Go-ins, Teach-ins, auf denen Plakate geklebt, rote Fahnen geschwenkt und kleine rote Mao-Bibeln im intimen Kreis herumgereicht werden. Die Hamburger Studenten begrüßen ihre Dozenten in den altehrwürdigen Hallen der Aula durch ein Transparent mit der Aufschrift: »Unter den Talaren, Muff von tausend Jahren«. Die Situation eskaliert erst durch die zum Teil überzogenen Reaktionen von staatlicher Seite. Im Mai 1967 besucht der Schah von Persien die Bundesrepublik. Überall, wo das Herrscherpaar auftritt, kommt |280| es zu Protesten. Als iranische Sicherheitskräfte mit Holzlatten auf Demonstranten einschlagen und die deutsche Polizei nicht eingreift, verbreiten sich Unruhen in zahlreichen deutschen Städten. Am 2. Juni besuchen der Schah und seine Frau die Deutsche Oper in Berlin. Wieder geht die Polizei mit großer Härte gegen die erneut aufmarschierenden Demonstranten vor. Der Student Benno Ohnesorg wird von einem Polizisten erschossen. Es ist das Signal zu einer Radikalisierung der außerparlamentarischen Opposition, deren Kern sich in der Studentenschaft sammelt.
An den Universitäten fordern die Studenten der Achtundsechziger-Bewegung neue Studienordnungen und Mitbestimmungsmodelle. Auf den Straßen liefern sie sich Kämpfe mit der Polizei. Eine Kultur macht sich breit, die die Welt der älteren Generation ins Wanken bringt: Wohngemeinschaften, sexuelle Freiheit und das Motto »Wer einmal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment« – seit 1962 ist die Antibabypille auf dem deutschen Markt –, die Frauenbewegung, die »antiautoritäre« Kindererziehung. Die Männer lassen sich »eine lange Matte« wachsen und tragen Vollbärte. Anzug und Krawatte wandern in den Kleiderschrank, man trägt Jeans und ausgefranste T-Shirts und der Minirock erobert die Welt. Das Rauchen von Joints wird zur modischen Geste. »Trau keinem über 30«, lautet die Devise einer Generation, die mit Tabubrüchen und politischer Provokation den Aufstand probt.
Keineswegs ist dies allein ein deutsches Phänomen. In Paris kommt es im Mai 1968 zu Straßenkämpfen zwischen Studenten und Arbeitern auf der einen und den Sicherheitskräften auf der anderen Seite, die Frankreich in eine schwere Staatskrise stürzen. In Amerika ist die Zeit der »Blumenkinder« angebrochen, bis zu 500 000 Rockfans treffen sich im August 1968 beim legendären Woodstock-Festival im US-Staat New York, dem Höhepunkt der Hippiebewegung. Der Vietnam-Krieg, in den sich die USA in den sechziger Jahren immer tiefer verstricken, politisiert die Jugend in der gesamten westlichen Welt.
Rudi Dutschke (1940–1979)
Zum Idol der Jugend und zum Schrecken der konservativen Medien und Parteien wird in diesen Jahren der Studentenführer Rudi Dutschke. Die Auftritte des asketisch wirkenden Soziologiestudenten bei den großen Studentenversammlungen im
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