Die Geschichte der Deutschen
ein scheinbar unentwegter Aufstieg und (West-)Deutschland ist ein Wirtschaftswunderland. Das rechnen die Westdeutschen ihrem Kanzler hoch an. Nach den Jahren der Diktatur und der Nachkriegsnot wollen sie nun endlich genießen. Der erste Kühlschrank, die erste Wohnzimmergarnitur, das erste Auto, die erste Reise in den Süden, möglichst nach Italien und im eigenen »Käfer« – das können sich zwar zunächst nur die wenigen Reichen leisten, und sie zeigen es ziemlich protzig. Aber der korpulente Optimist mit der Zigarre, Ludwig Erhard, verspricht auch dem Normalbürger eine herrliche Zukunft: »Wohlstand für alle!« Eine schöne heile Welt tut sich auf. Im Kino schluchzen die Zuschauer, wenn sich das Schwarzwaldmädel Sonja Ziemann von Rudolf Prack endlich in die starken Arme nehmen lässt. Und in Kurt Hoffmanns Kinohit Wir Wunderkinder von 1958 können die Deutschen sogar über sich lachen. Aus dem Radio plärrt das schlagersingende Kind Conny Froboess, dass sie nun die Badehose einpackt, ihr »kleines Schwesterlein« nimmt – »und dann nichts wie ab an den Wannsee« verschwindet. Das sind die idyllischen Träume der älteren Generation. Die Jugend hingegen wird »halbstark«, hört Bill Haleys Rock around the Clock oder Elvis Presleys Heartbreak Hotel und frönt aus der Sicht der Erwachsenen den Symptomen einer »ansteckenden |278| Krankheit« namens Rock’n’Roll, bei der zu später Stunde in den Tanzsälen schon mal die Stühle fliegen. James Deans melancholisches Aufbegehren gegen die Generation der Väter kündet in Hollywoods Kinofilmen von einer neuen Zeit. Und als dann Helmut Rahn 1954 im Berner Stadion mit seinem dritten Tor gegen Ungarn die bundesdeutsche Elf zum Fußballweltmeister schießt, da geht ein Ruck durch die Nation: Wir sind wieder wer!
Aber noch eine Veränderung wird sichtbar. Während die Mehrheit sich zuerst von der Fress-, dann von der Auto- und Reisewelle überrollen lässt und sich in Milchbars zum Rendezvous am Nierentisch trifft, beginnen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre junge Historiker an den Universitäten die jüngste deutsche Geschichte aufzuarbeiten. Aufsehenerregende Studien über das Ende der Weimarer Republik und die Etablierung der Hitler-Diktatur, bald auch über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges lösen einen heftigen Streit aus. Zum ersten Mal stellen die Deutschen sich ernsthaft und frei von nationalen Verdrängungen Fragen zu ihrer historischen Rolle. Heinrich Bölls 1954 erschienener Roman Haus ohne Hüter oder die literarische Sensation von 1959, Die Blechtrommel von Günter Grass, erzählen von der Vergangenheit, die noch Gegenwart ist, von Krieg und Schuld, von Heimatverlust und von der Zerstörung einer Jugend.
So kündigt sich in den letzten Adenauer-Jahren ein Generationenwechsel an. Viele Wähler haben genug von den ständigen Warnungen ihres Kanzlers vor der kommunistischen Gefahr und seinen sich ritualhaft wiederholenden Polemiken gegen die »Sozialisten und Sozialdemokraten«. Das passt nicht in die Stimmung, die sich Ende der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik ausbreitet. Adenauer wird respektiert, aber er erscheint vielen nun wie ein Mann von Gestern.
278
283
278
283
false
Muff von tausend Jahren ...
Die Unionsparteien haben über die lange Adenauer-Zeit den Blick für die Realitäten eingebüßt. Für sie ist zum Diktum geworden: Diesen Staat regieren nur wir. Wie sehr in der Union das Gefühl vorherrscht, die Bundesrepublik gehöre ihr auch, erweist sich während der so genannten »Spiegel-Affäre« von 1962. Kanzler Adenauer nimmt einen Artikel des von ihm scharf abgelehnten Nachrichtenmagazins über die Bundeswehr zum Anlass, dessen Herausgeber Rudolf Augstein mit der Begründung des »Landesverrats« verhaften und die Redaktionsräume in einer Überrumpelungsaktion stürmen zu lassen. Eine unheilvolle |279| Rolle spielt dabei Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, der die bayerische CSU führt und sich schon mit seiner Forderung nach einer atomaren Bewaffnung Deutschlands in die Schlagzeilen gebracht hat. Auf den Straßen demonstrieren Tausende junge Menschen, und die Zeitungen solidarisieren sich mit ihren Kollegen. Die Affäre endet mit einer schweren Niederlage für Adenauer. Es stellt sich heraus, dass die Vorwürfe unhaltbar sind und die Verhaftung Augsteins lediglich ein Vorwand gewesen ist, eine für die Regierung unbequeme Stimme mundtot zu machen. Strauß muss als Verteidigungsminister zurücktreten.
Nur
Weitere Kostenlose Bücher