Die Geschichte der Deutschen
beiden deutschen Staaten zunächst an den »Katzentisch« verbannt werden, also wenig zu sagen und fast gar nichts zu entscheiden haben. Im Grunde geht es um die immer stärker anschwellende Zahl der Flüchtlinge, die die DDR über das offene Berlin verlassen und damit der »sozialistischen Alternative« eine klare Absage erteilen. Seit 1949 sind fast 2,6 Millionen Menschen diesen Weg gegangen.
Am 13. August 1961 beginnen DDR-Bautrupps die Berliner Mauer zu errichten. Sie riegelt den Ostteil der Stadt von seinem Westteil ab. Ulbricht will den Flüchtlingsstrom beenden und »mauert« seine DDR-Bürger kurzerhand ein. Er stellt sie vor vollendete Tatsachen. Wer in den Westteil der Stadt gefahren ist, läuft Gefahr am Abend nicht mehr zurückkehren zu können. Familien werden auf Jahrzehnte voneinander getrennt. Die Menschen beobachten fassungslos auf beiden Seiten, wie der »antifaschistische Schutzwall« zwischen ihnen und ihren Nachbarn, Freunden und Verwandten zu einer unüberwindlichen Barriere hochgezogen wird. Die Mauerbauer gehen rigoros vor. Dort wo die Grenze an Häuserfassaden entlang läuft, zementieren sie die Fenster, damit sich keine Flüchtlinge wie in der Bernauer Straße in die westliche Freiheit stürzen. Das Bild vom Soldaten der Nationalen Volksarmee, der in letzter Minute über den Stacheldraht springt, ist in allen Geschichtsbüchern zu finden. Heute, wo kaum noch Reste der Mauer übrig geblieben sind, verblassen die Erinnerungen so langsam daran, was für einen tiefen Graben die Mauer mitten durch Deutschland gezogen hat. In den kommenden Jahren ist er dann noch tiefer geworden. Die DDR baut auch die übrigen Grenzen aus. Selbstschussanlagen, Todesstreifen und der Schießbefehl für die Grenztruppen empören die westdeutschen Parteien. Viele DDR-Bürger verlieren ihr Leben, wenn sie auf abenteuerlichen Wegen in Tunneln, Ballons oder durch die Ostsee schwimmend in den Westen flüchten.
Als die Bautrupps im Osten sich an die Arbeit machen, steht die Bundesrepublik vor Neuwahlen. Adenauer unterbricht seinen Wahlkampf zunächst nicht. Er scheint die Dimension der Berliner Ereignisse nicht zu erkennen. Verwundert reagieren die westdeutschen Medien, verärgert die Berliner Bürger auf diese Haltung des Kanzlers. Der junge Regierende Bürgermeister von Berlin, der Sozialdemokrat Willy Brandt, verdammt dagegen den Mauerbau sofort. Er stellt sich auf die Seite der betroffenen Menschen, ruft sie zu Ruhe und Besonnenheit und die Westmächte zu Reaktionen auf.
|275| Drei Wochen später wählen die Westdeutschen. Adenauer verliert die absolute Mehrheit. Die CDU/CSU bleibt zwar mit 45,3 Prozent die stärkste Partei, aber die SPD springt auf 36,2 Prozent hoch. Sie hat sich zwei Jahre zuvor auf dem Godesberger Parteitag inhaltlich reformiert. Bald bekennen sich die Sozialdemokraten öffentlich zur deutschen Wiederbewaffnung und zur Westbindung Bonns. Mit ihrem Kanzlerkandidaten Willy Brandt hat Adenauer nun auch einen Gegner, der nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft zu vertreten scheint und zudem durch die Ereignisse beim Mauerbau zu einer Integrationsfigur herangewachsen ist. Der starke Mann im Hintergrund heißt Herbert Wehner. Der ehemalige Kommunist treibt seine Partei zu den notwendigen Reformen, die ihr endlich die Macht in Bonn bringen sollen. Und in Hamburg macht sich im Februar 1962 der sozialdemokratische Innensenator Helmut Schmidt bei der Bekämpfung einer verheerenden Sturmflut einen Namen. Das Dreiergespann Brandt, Wehner und Schmidt wird die SPD in den Augen der Wähler regierungsfähig machen.
Willy Brandt (1913–1992)
Neben Konrad Adenauer war der Sozialdemokrat Willy Brandt der Kanzler, der die bundesdeutsche Politik am einschneidendsten prägte. Er war zwar nur knapp fünf Jahre Regierungschef, aber 23 Jahre lang SPD-Vorsitzender und genoss als Präsident der Sozialistischen Internationale und der Unabhängigen Nord-Süd-Kommission, die Lösungen zur Überwindung des Gefälles zwischen den armen und reichen Staaten der Welt sucht, internationales Ansehen. Vor allem für die Jugend war er in den sechziger und frühen siebziger Jahren der Hoffnungsträger einer neuen Politik. Er gehörte zum »anderen Deutschland«, denn er ging als junger Mann 1933 nach Skandinavien ins Exil und kämpfte in verschiedenen Widerstandsbewegungen gegen das Nazi-Regime. Brandt war ein charismatischer Politiker. Sein »Kniefall« vor dem Mahnmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto 1944
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