Die Geschichte der Deutschen
Oberhand. Tausende Mitglieder der Oberschicht gehen ins Exil. Die Monarchie wird abgeschafft. Ludwig XVI. und seiner Frau Marie Antoinette, eine Tochter der Habsburgerin Maria Theresia, wird der Prozess gemacht. Sie sterben auf der Guillotine. Zahlreiche Adlige und bald auch viele gemäßigte Vertreter der Revolution erleiden das gleiche Schicksal. Der Terror, den Robespierres »Wohlfahrtsausschuss« ausübt, endet mit dem Sturz des Aufrührers. Seine Hinrichtung zieht eine weitere Welle der Gewalt nach sich, die erst durch den Aufstieg des aus Korsika stammenden Generals Napoleon Bonaparte beendet wird.
Auch wenn dieser zunächst eine neuerliche Kaiserherrschaft errichtet und von Paris bis Moskau alle Völker seinem diktatorischen Regime unterwerfen will: Die Ideen der Revolution sind nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Sie werden alle freiheitlichen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts bewegen. In den von Ludwig XVI. einberufenen Generalständen hat sich erstmals der Dritte Stand energisch zu Wort gemeldet. Im Zuge der Industrialisierung wächst dann der Vierte Stand, die Arbeiterschaft, allmählich zu einer wichtigen gesellschaftlichen Macht heran. Das liberale Bürgertum beruft sich nicht weniger auf die 1789 beschworene Freiheit und Gleichheit, wie die nach 1848 aufkommende sozialistische Bewegung.
Rahel Varnhagen (1771–1833)
In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts ist nicht nur in Paris, sondern auch in Berlin eine neue Kommunikationsform zu beobachten: Man trifft sich in den privaten Salons wohlhabender Bürger und diskutiert über Literatur, Theater oder Mode, klatscht über die letzte Liebesaffäre in der preußischen Hauptstadt. Freizügig sind die Gäste auch in ihren Liebesbeziehungen. Da wechselt schon gelegentlich der Partner oder die Partnerin. Die Bälle oder Tabakskollegien, die Diskussionsrunden und Gesprächskreise, das sind gesellschaftliche Formen des Meinungsaustausches und der Verbreitung von Informationen, die bislang dem Adel vorbehalten gewesen sind. Nun beginnt das aufstrebende Bürgertum sich seine eigenen Foren zu schaffen.
|116| Das ist auch eine Folge der Aufklärung. Man liest, man diskutiert, man wird »mündig«. Der Diplomat und Gelehrte Wilhelm von Humboldt, einer der berühmten Salongäste, schreibt euphorisch: »Es hat nie eine Epoche gegeben, wo überall und auf allen Punkten die alte und die neue Zeit in so schneidenden Kontrast getreten sind.« Das Besondere: Es sind Frauen, die in den Salons endlich einen Weg sehen, sich zu emanzipieren, teilzunehmen an der öffentlichen Debatte, zu zeigen, dass sie durchaus in der Lage sind, auch bei Themen zu brillieren, die sich bislang die Männer vorbehalten haben. Natürlich ist das keine breite Bewegung. Aber Frauen wie Bettina von Arnim, die eine wichtige Rolle in der Frühromantik spielt, oder Dorothea Schlegel, die Tochter des Philosophen Moses Mendelssohn, weisen auf ein neues Bewusstsein der Frauen hin. Es handelt sich um eine doppelte Emanzipation: Denn es sind vor allem die Salons der Berliner Jüdinnen, in denen man sich trifft, plaudert, kokettiert und über alles diskutiert. Es sind nur etwa hundert Menschen, die die neue Salonkultur in Berlin pflegen. Zu den zwei berühmtesten laden Henriette Herz, Tochter eines hoch angesehenen jüdischen Arztes, und Rahel Levin, Tochter eines wohlhabenden jüdischen Bankiers, ein. Henriette und Rahel sind vorzüglich ausgebildet, sprechen Französisch, Englisch, Latein und Hebräisch, spielen Musikinstrumente und sie lesen jeden neuen Roman, den die Weimarer Klassiker und die Frühromantiker auf den Markt bringen. Goethe bewundert, wie kenntnisreich Rahel über seinen Wilhelm-Meister-Roman spricht, Prinz Louis Ferdinand komponiert am liebsten oben in der Dachkammer der Gastgeberin, wenn diese neben dem Klavier sitzt. Die Berliner Salons überwinden sogar teilweise die Klassenschranken. Es sind vor allem Schauspieler, Sänger, Schriftsteller, Gelehrte die kommen, aber auch der gebildete niedere Adel, Kaufleute, Ärzte und Juristen sind dabei. Das ist neu. In der Jägerstraße, dem Haus der Levins, ist Rahel der Mittelpunkt.
1806 stirbt nicht nur Prinz Louis Ferdinand, der Star von Rahels Salon, auf dem Schlachtfeld, sondern die Niederlage Preußens und die Besetzung Berlins durch die Franzosen lässt auch die Salons verwaisen.
1814 wird Rahel den 14 Jahre jüngeren Diplomaten Karl Varnhagen von Ense heiraten. Diese geistig so offene, aufgeklärte Frau lebt zu früh. Ihre
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