Die Geschichte der Deutschen
werden diese Grundsätze in aufgeklärter Form eine wichtige, teilweise zentrale Rolle einnehmen. Das gilt auch für seine persönliche Existenz. Kant wird als Philosoph und Hochschullehrer äußerst unauffällig leben und Königsberg praktisch nie verlassen. Der tugendhafte Mann, schreibt er einmal, ist so sehr Herr seiner Leidenschaften, dass er sich kaum von ihnen beeinflussen |112| lässt. Er ist gegenüber der Macht und dem Ansehen in der Welt so gleichgültig, dass er sie gemessen an der Pflicht für bedeutungslos hält. Kant richtet seine Existenz nach diesen Grundsätzen aus.
Die Jugend ist schwierig und der berufliche Aufstieg in der Gelehrtenwelt langwierig. »Viele Leute denken, ihre Jugendjahre seien die besten und die angenehmsten ihres Lebens gewesen«, meint er rückblickend. »Aber dem ist wohl nicht so. Es sind beschwerliche Jahre, weil man da unter der Zucht ist, selten einen eigentlichen Freund und noch seltener Freiheit haben kann.« Kant studiert in Königsberg Naturwissenschaften, Mathematik und Philosophie. Nach seiner Habilitation muss er 15 Jahre warten, bis er zum Professor für Logik und Metaphysik ernannt wird. In einem genau geregelten Tagesablauf verbringt er sein Leben zwischen dem Hörsaal in der Universität und dem häuslichen Schreibtisch, an dem seine philosophischen Schriften entstehen.
Hier formuliert er jene programmatischen Sätze, die Geschichte machen: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Kant ist ein weit blickender Mann, der die Menschen zwingt, ihre alten Abhängigkeiten über Bord zu werfen. Den Mut zu haben, in religiösen, politischen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen oder philosophischen Fragen eigenständig zu denken, ist eine der wichtigsten, nach wie vor unerfüllten anti-ideologischen Forderungen der Moderne geworden. Mit seinem »kategorische Imperativ« bestimmt der Philosoph ein fundamentales sittliches Gesetz: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Wenn wir so handeln, wie wir wollen, dass an uns gehandelt wird, folgen wir der Vernunft. Denn wer dieser Forderung nachkommt gehorcht nicht nur der Pflicht, sondern er geht auch den Weg der Freiheit. Sittlichkeit im Sinne des kategorischen Imperativs »befreit« den Menschen von den Mechanismen der Natur. Modern ausgedrückt heißt dies, dass der freie Mensch sich nicht seinen Trieben unterwirft. Grenzenlos ist die Freiheit trotzdem nicht. Die Beschränkung besteht darin, dass wir die Freiheit aller anerkennen müssen. Jeder Mensch, so verkündet Kant uns hoffnungsvoll, kann sich durch tägliche Übungen und selbst erworbene Überzeugungen bestimmte Handlungs- und Lebensregeln zu eigen |113| machen. Sie werden ihm Kraft und Fähigkeit verleihen, den Lebensalltag zu bewältigen.
Persönliche Freiheit bis an die Grenzen der Freiheit des Mitmenschen, Eigenverantwortung und Verantwortung für das große Ganze der Gesellschaft – Kant ist seiner Zeit weit voraus, wenn man bedenkt, wie sehr sich nicht nur die preußischen Herrscher seines Landes, sondern auch deren selbst ernannte Nachfolger über diese Prinzipien hinwegsetzen. In seiner kleinen Schrift Zum ewigen Frieden hebt Kant Grundsätze hervor, deren Erfüllung uns die Verbrechen des 20. Jahrhunderts erspart hätte. »Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Krieg gemacht worden«, heißt es da. Oder: »Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören.« Oder: »Kein Staat soll sich in die Verfassungen und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.«
Bald werden sich die großen deutschen Dichter auf Kants idealistische Grundsätze berufen. Sie finden Eingang in ihre dramatischen Werke, die von Freiheit und Toleranz erzählen und den geistigen und politischen Despotismus der Fürsten geißeln. Berühmte Beispiele sind Lessings Stück Nathan der Weise und Schillers Schauspiel Die Räuber. Vor allem Schiller, im 19. Jahrhundert der
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