Die Geschichte der Deutschen
Juli 1830 beherrscht die Frage eines neuen Wahlrechts. Soziale Unruhen zwingen die alten Parlaments- und Adelseliten zu Konzessionen, um das bestehende politische System in eine neue Phase bürgerlicher Vorherrschaft hinüberzuretten. In Russland ist noch das Beben des Dekabristen-Aufstandes vom Dezember 1825 zu spüren. Es sind junge adlige Offiziere, die nach dem Tod Alexanders I. einen Aufstand gegen das autokratische, unumschränkt herrschende Zarenregime auslösen. Sie scheitern und die Erschießungskommandos haben viel Arbeit. In Polen lösen die Patrioten einen Befreiungskrieg gegen die russische Oberhoheit aus, der die deutschen Liberalen in Begeisterung versetzt.
In ganz Europa gärt es. Auch in Deutschland. In mehreren Bundesstaaten brechen Unruhen und Aufstände aus. In Braunschweig brennen die Aufständischen das Schloss des unbeliebten und selbstherrlich regierenden Königs von Hannover nieder. Zwei Jahre zuvor hat Ernst August mit einem absolutistischen Staatsstreich die Verfassung aufgehoben und damit landesweit Empörung ausgelöst. In Kurhessen sind es vor allem soziale Nöte, die die Menschen auf die Straße treiben. Sie vermischen sich bald mit politischen Forderungen. Kurfürst Wilhelm II. provoziert seine in Not lebenden Landsleute durch seine teure Mätressenwirtschaft, in die er offenbar mehr zu investieren bereit ist als in seine Untertanen. Korruption, bürokratische Bevormundung und polizeistaatliche Verhältnisse prägen den Alltag in Kassel. Das kurfürstliche Regime ist diskreditiert. In Hannover, das noch in Personalunion mit England verbunden ist, gilt der Protest dem an mittelalterliche Verhältnisse erinnernden feudalen System, das der leitende Minister Graf Münster eingeführt hat. In Sachsen wiederum überwiegen die sozialen Proteste. Nur in Österreich und Preußen ist es noch ruhig. Die beiden größten Staaten des Deutschen Bundes bleiben für dieses Mal vom Revolutionsfieber verschont.
Eine Revolution mit weitreichenden Konsequenzen wie 1789 ist es wieder nicht. In Braunschweig und Kurhessen müssen die fürstlichen Herrscher zurücktreten. Ihre Nachfolger sind allerdings von gleichem Holz wie ihre gestürzten Väter. Andernorts greift das Militär ein. Dass die Unruhen nicht ausufern, ist den Vertretern des Bürgertums zu verdanken. Es misstraut den radikalen Kräften, befürchtet mit den Arbeitern in einen Topf geworfen zu werden und sorgt sich um |128| die eigenen Privilegien. Die Verfassungen werden etwas liberalisiert, einige Zugeständnisse werden angekündigt. Das ist alles. Denn die deutschen Landesherren denken gar nicht daran, nach dem Abflauen der Demonstrationen und Märsche ihre Versprechen einzulösen.
So bleibt auch nach 1830 die Lage gespannt. Nach außen hin lässt man sich befrieden, aber hinter vorgehaltener Hand schwelt das revolutionäre Feuer nach wie vor. Da politische Vereinigungen verboten sind, breitet sich in Deutschland eine ganz neue Festkultur aus. Auf von Tausenden besuchten Sängertreffen oder auf den »Polenfeiern« für die polnischen Freiheitskämpfer, die sich im November 1830 gegen den ihr Land regierenden russischen Zaren auflehnen, wird nicht nur viel Bier getrunken. Die Festredner erheben handfeste politische Forderungen und beklagen mit aufsässigen Worten die Lage in Deutschland. Einen Höhepunkt bildet das Hambacher Fest. Im pfälzischen Neustadt, unterhalb der Ruine des Hambacher Schlosses, versammeln sich am 27. und 28. Mai 1832 etwa 30 000 Menschen. Studenten, Handwerker, liberale Anwälte, Ärzte, Hochschullehrer und sogar Bauern aus der Umgebung bilden die Mehrzahl. Die verbotene schwarz-rot-goldene Fahne, in den napoleonischen Befreiungskriegen die Farben der jungen Freiwilligen, und der weiße Polenadler wehen. An die 20 Reden werden gehalten. Darin geht es um Freiheit und freie Meinungsäußerung, um nationale Einheit und die Beseitigung der Fürstenherrschaft. »Denn vor der Tyrannen Angesicht / Beugt länger der freie Deutsche sich nicht«, reimt der republikanische Publizist Philipp Jakob Siebenschläfer, und die in Hambach Versammelten jubeln. Es gibt Streit über die politischen Wege, die eingeschlagen werden sollen, aber die republikanische Brüderlichkeit wird überschwänglich gefeiert. Über die Einsetzung einer provisorischen Volksvertretung können sich die »Feiernden« jedoch nicht einigen. Nicht zu überhören sind judenfeindliche und aggressive nationalistische Töne. Die Hauptredner werden unmittelbar nach
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