Die Geschichte der Deutschen
ersten Begegnung mit der Literatur.
Jahrelang gehen die beiden Brüder auf Spurensuche. »Gib mir doch«, schreibt Jacob Grimm 1809 an einen Jugendfreund, »auf die Sitten, Gebräuche deiner Gerichtsuntergebenen acht; besonders examinier alle Spitzbuben über Diebs- und Räuberlieder, über abergläubische Dinge, Sprüche genau und vollständig aus. Fischer, Köhler und alte Weiber such vorzugsweise als Zeugen und dergleichen zu admittieren, weil sie viel mehr zu erzählen wissen als andere.«
Ihre Märchensammlung hat die Grimms berühmt gemacht. Aber nicht weniger wichtig ist das gewaltige Grimmsche Wörterbuch, das die Herkunft und literarische und historische Verwendung sämtlicher deutscher Wörter zu erklären versucht. Die Brüder kommen über die ersten beiden Bände nicht hinaus. Erst 123 Jahre später, 1961, wird dieses monumentale Gelehrtenwerk mit dem 32. Band beendet.
Die beiden Brüder werden im hessischen Hanau geboren, studieren in Marburg, und sie gelten als die Begründer der Germanistik. In Göttingen übernehmen beide einen Lehrstuhl, bis sie dann die Politik einholt. Jacob wird aus Hannover verbannt und muss das Land binnen zwölf Stunden verlassen. Als er die Grenze überschreitet, hört er, wie eine Großmutter zu ihrem Enkel sagt: »Gib dem Herrn eine Hand, er ist ein Flüchtling.« Wie schön wäre es, wenn auch die Großmütter im 21. Jahrhundert dies ihren Enkeln sagen würden, wenn sie einem Asylbewerber begegnen. Wilhelm kann zwar bleiben, hat aber kein Amt mehr. Keine andere deutsche Regierung wagt es, die Göttinger Sieben mit einem Lehramt zu betrauen. Erst König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen beruft sie als Mitglieder in die Akademie. Aber das ist ihm sichtbar unangenehm.
Bis zu ihrem Tode arbeiten Jacob und Wilhelm an ihren Werken über die Deutsche Mythologie, die Deutschen Rechtsaltertümer und natürlich am Wörterbuch. Mit den beiden Brüdern Grimm tritt ein selbstbewusstes neues Bürgertum in der deutschen Gesellschaft auf, das Gelehrsamkeit mit patriotischer Haltung verbindet.
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|133| Revolution!
Im Bundestag blockieren die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen immer stärker die Arbeit der Ländergesandten. Auch wenn Preußen den offenen Konflikt scheut, versucht es seine Position zu stärken. Ein wichtiges Feld ist dabei die Zollpolitik. Schon 1833 ist unter Preußens Führung der Deutsche Zollverein gegründet worden, dem zunächst 18 deutsche Staaten mit insgesamt 23 Millionen Bürgern angehören. Österreich bleibt auf ausdrücklichen Wunsch Berlins ausgeschlossen. Metternich ist sich offenbar nicht bewusst, welch ein mächtiges politisches Instrument er damit Preußen überlässt. Denn Deutschland beginnt sich im Zollverein wirtschaftlich zu vereinigen – und Österreich steht draußen.1835 berichten die Zeitungen von einem besonderen Ereignis im bayerischen Franken. Auf der Strecke Nürnberg-Fürth findet die erste Eisenbahnfahrt in Deutschland statt. Kaum jemand ahnt, was dieses Spektakel bedeutet. Die Eisenbahn revolutioniert nach 1850, wenn das deutsche Streckennetz zügig ausgebaut wird, das Alltags- und das Wirtschaftsleben. Über Jahrhunderte haben die meisten Menschen in der engen Region gelebt, in der sie geboren und aufgewachsen sind. Postkutschenreisen sind teuer und gefährlich. Die Eisenbahn öffnet jetzt die Welt. In wenigen Stunden ist der Reisende in Berlin, Hamburg oder München. Kaufleute schicken ihre Waren schnell und sicher über Hunderte von Kilometern und finden dadurch neue Absatzmärkte. Ganz neue Militärstrategien sind möglich, denn die Eisenbahn kann riesige Truppentransporte durchführen. Mit der Eisenbahn beginnt in Deutschland die Industrielle Revolution. Sie wird das Land in den nächsten fünfzig Jahren mehr verändern, als es die letzten 500 Jahre getan haben.
Doch zunächst wird ganz Europa in den vierziger Jahren von einer schweren Wirtschafts- und Agrarkrise heimgesucht. Fabriken müssen schließen, die Lebensmittelpreise steigen stark an und in vielen Regionen brechen Hungersnöte aus. Am schlimmsten trifft es Irland, wo Hunger und die Flucht vor dem Elend die Bevölkerung halbieren. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Missernten, die besonders den für die Ernährung der ärmeren Volksschichten wichtigen Kartoffelanbau treffen, Finanzspekulationen und die Probleme in den Handwerksbetrieben, die der Konkurrenz der Fabriken zunächst kaum etwas entgegensetzen
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