Die Geschichte der Deutschen
wieder, die Werke neu zu interpretieren. Büchner ist heute nach Schiller der auf deutschen Bühnen wohl am meisten gespielte Autor des 19. Jahrhunderts.
Büchner ist sicher der Radikalste unter den deutschen Dichtern der Restaurationsjahre. Aber auch andere Schriftsteller melden sich kritisch zu Wort. Der jüdische Autor Ludwig Börne und der Publizist Karl Gutzkow veröffentlichen ihre Artikel in verschiedenen Zeitungen. Sie werden bald als Mitglieder des Jungen Deutschland berühmt und berüchtigt. Eine Ausnahmeerscheinung ist Heinrich Heine. In Düsseldorf geboren, studiert er in Göttingen, lebt in Hamburg und Berlin, schreibt wunderschöne Gedichte und eine ironische, funkelnde Prosa. Auch er ist Jude, wird vielfach diffamiert und ist selbst ein begnadeter Polemiker. Wie Börne, der im Frankfurter Ghetto aufgewachsen ist, geht er nach der Revolution von 1830 ins Pariser Exil. Kämpferische Journalisten und brillante Feuilletonisten sind sie, die ihren Landsleute den Spiegel vorhalten. Die Lust an literarischen Fehden verlieren sie nie. Sie kränken sich bis aufs Blut.
In jenen Jahren entsteht auf Helgoland auch ein Gedicht, dessen wechselvolle Geschichte die Geschichte der Deutschen reflektiert. Der Autor ist August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Wegen seiner Unpolitischen Lieder, die entschieden demokratisch sind, verliert er 1842 sein Professorenamt. In den folgenden Jahren wird er wegen seiner nationalliberalen Haltung verfolgt und fast 40 Mal aus verschiedenen deutschen Territorialstaaten ausgewiesen. 1841 |131| schreibt er sein Lied der Deutschen. Es ist Ausdruck des Wunsches nach einem einigen, demokratischen deutschen Reich in den Grenzen des Deutschen Bundes: »Von der Maas bis an die Memel / Von der Etsch bis an den Belt.« In den damaligen Grenzen, wohlgemerkt. Später missbrauchen die nationalistischen und demokratiefeindlichen Obrigkeiten Fallerslebens Text. Die Soldaten unter Wilhelm II. bekunden mit diesem Lied ihren weltweiten Eroberungswillen, bevor sie in die Schlachten des Ersten Weltkriegs ziehen, und die Nationalsozialisten besingen damit ihre chauvinistischen Allmachtsfantasien. Die wahre demokratische Tradition des Liedes würdigen dagegen die Vertreter der deutschen Republiken. Friedrich Ebert macht es 1922 zur Nationalhymne der Weimarer Republik, und in der Bundesrepublik gilt seit 1952 die dritte Strophe als offizielle Hymne.
Die Aufsässigkeit der Liberalen und der Künstler, die vielen Geheimbünde und die Umsturzversuche lassen die autokratischen Regierungen in den Ländern immer nervöser reagieren. Metternich fordert von den Bundesmitgliedern neue Repressionsmaßnahmen. Die rechtsstaatlichen und liberalen Freiheiten einiger Bundesländer, wie beispielsweise die des Großherzogtums Baden, werden auf Beschluss des Bundestages eingeschränkt. 1837 endet die Personalunion zwischen England und Hannover. Ernst August von Cumberland wird König von Hannover. Er beginnt seine Regierungszeit mit einem Staatsstreich und erklärt die Verfassung des Landes für ungültig. Damit sind auch die Staatsbeamten aus ihrem Verfassungseid entlassen. Sieben mutige Professoren der Göttinger Universität, darunter die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, erklären, sie fühlten sich an die alte Verfassung gebunden. Ernst August tobt und entlässt die Göttinger Sieben fristlos aus dem Universitätsdienst. Drei von ihnen müssen das Land verlassen. Der Vorgang löst in ganz Deutschland öffentliche Proteste aus. Das Verhalten des Königs wird allgemein als Beispiel für fürstliche Willkür gesehen. Die politische Polarisierung wächst.
Jacob und Wilhelm Grimm (1785/86–1859/63)
Auch fast 200 Jahre später beweist sich noch ihre Unsterblichkeit. Selbst wenn heute die Abenteuer der »Drei ???«-Detektive oder des Zauberlehrlings Harry Potter Kinder und Jugendliche faszinieren – wer kennt nicht die Geschichten von Hänsel und Gretel, Rotkäppchen oder Rapunzel. Die »Kinder- und Hausmärchen«, die uns mit leichten Gruselgefühlen in den Schlaf begleiten, sie |132| sind nicht zuletzt auch ein Produkt der deutschen Romantik. Die beiden Philologen und Dichter Jacob und Wilhelm Grimm haben sie in den Jahren gesammelt, als die Deutschen sich selbst suchen und so gar nicht finden wollen. Der Stoff, aus dem ihre Märchen sind, ist uralt und hat sich über Generationen mündlich überliefert. Nachdem 1812 der erste und 1815 der zweite Band erschienen ist, wird er bald für unendlich viele Kinder zur
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