Die Geschichte der Deutschen
nicht harmlos zu im Biedermeier. Eine Umbruchzeit ist es. Verunsicherung macht sich breit. Das Neue in der Arbeitswelt, in der die ersten Maschinen zum Einsatz kommen, oder die Nachrichtenflut, die durch die nun massenhaft erscheinenden Anzeigenblätter und Zeitungen über die Menschen hereinströmt – Fortschrittsbegeisterung steht neben Zukunftsängsten. Die Romantik, teilweise eine Abwendung von der unschönen gesellschaftlichen Wirklichkeit der Restaurationsjahre, spiegelt den Verlust der Geborgenheit und die Suche nach Orientierung wider. Leblose Eisflächen, seltsame Mond- und Waldlandschaften entdecken die Maler. Schauerliche Nachtträume, verderbliche Zauberwerke und unglücklich Liebende reizen die Opernkomponisten. Immer spielt dabei die Sehnsucht nach dem Nationalen mit. Carl Maria von Webers Freischütz, 1821 uraufgeführt, hat nicht zuletzt deswegen so einen ungeheuren Erfolg, weil die Theaterbesucher eine »deutsche Volksoper« zu sehen glauben, in der dunkle Schluchten, der geheimnisvolle deutsche Wald und markiger Chorgesang aus deutschen Jägerkehlen eine Hauptrolle spielen.
Das Bürgertum beginnt seinen Aufstieg. Aus manchem der vielen kleinen Handwerksbetriebe und Manufakturen entwickelt sich im Zuge der Industrialisierung eine Fabrik. Mitglieder der reich gewordenen Kaufmannsfamilien wirken |126| in der Kommunalpolitik mit und sitzen als Abgeordnete in den Landtagen. Neues Selbstbewusstsein macht sich breit. Die berufliche Leistung und der materielle Erfolg bestimmen aus der Sicht der Bürger die gesellschaftliche Stellung des Staatsbürgers, nicht die Geburt, wie es über Jahrhunderte der Adel gewohnt ist. Die Verfassungsanträge, die in den Landesparlamenten gestellt werden, stammen vorrangig von den liberalen bürgerlichen Vertretern. Bei den fürstlichen Regierungen stoßen sie regelmäßig auf Ablehnung.
Eine gespaltene Zeit ist es. Während an den Fürstenhöfen der Adel so tut, als ob sich nichts verändern würde und Metternichs Unterdrückungsapparat fleißig arbeitet, debattieren die Bürger in den neu aufgekommenen Kaffeehäusern, in ihren Musik-, Museums- oder Lesevereinen über Demokratie und politische Mitsprache, die Entwicklung der Getreidepreise und der Handelsspannen. Die wichtigen Entscheidungen fallen in diesen Jahrzehnten nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in den Kaufmannskontoren und Handelshäusern, auf den großen Messen und in den Finanzministerien. Preußen sieht sich 1828 plötzlich mit einem feindlich gesinnten Mitteldeutschen Handelsverein konfrontiert. Sachsen, Hannover, Kurhessen und einige thüringische Kleinstaaten wollen mit diesem Zusammenschluss den preußischen Handel boykottieren. Die Antwort aus Berlin kommt schnell. Preußen schließt einen Zollvertrag mit dem Herzogtum Hessen-Darmstadt. Aus ihm wird später der Deutsche Zollverein hervorgehen. Noch ahnen Österreichs Kaiser Franz I. und sein Kanzler Metternich so wenig wie die Könige von Bayern oder Württemberg, die Großherzöge und Herzöge der vielen anderen Mittelstaaten, dass es dieser Zollverein sein wird, der dann in erweiterter Form und unter energischer preußischer Führung Österreich im deutschen Kräftespiel schachmatt setzt.
Das erste gefährliche politische Grollen ist wieder in Frankreich zu hören. Die Bourbonen, die nach Napoleons Sturz wieder auf den französischen Thron gelangt sind, bleiben glück- und erfolglos. 1825 leidet das Land nach einer kurzen Phase der industriellen Expansion unter schweren Finanz-, Wirtschafts- und Agrarkrisen. Die Getreide- und Brotpreise schnellen in die Höhe. Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend schüren die Unruhe im Land. Der Funke wird zum Feuer, im Juli 1830 gehen in Paris die Massen auf die Straße und König Karl X. muss abdanken. Aus Angst vor einer Ausweitung der Unruhen entscheidet sich Frankreichs Großbürgertum nicht für einen Präsidenten, sondern hebt den Herzog von Orléans auf das Schild. Als »Bürgerkönig« Louis Philippe herrscht er in den nächsten 18 Jahren. Bei den Protesten tritt erstmals eine zahlenmäßig noch nicht sehr große gesellschaftliche Klasse ins Rampenlicht: die Arbeiterschaft.
|127| Die revolutionären Ereignisse in Paris schwappen rasch über in andere europäische Länder. In Brüssel kommt es zu verlustreichen Straßenschlachten, und der Massenaufstand führt schließlich zur Gründung eines eigenständigen belgischen Staates. England überrollt eine Flut von Reformvorschlägen, und die Unterhauswahlen im
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