Die Geschichte der Deutschen
recht in die Zeit passenden Eisernen Kanzlers Bismarck ein wenig müde geworden. Seine düsteren Warnungen vor den vielen Gefahren, denen das Reich zum Opfer fallen könnte, wollen sie nicht mehr hören. Ist die Welt nicht herrlich und geht es in Deutschland nicht steil bergauf?
Was so ganz falsch nicht ist. Zwischen 1890 und 1914 entwickelt sich das Kaiserreich zur größten Industriemacht Europas, die darüber hinaus die stärkste Landarmee des Kontinents unterhält. Im Welthandel kann nur noch England das Reich übertreffen. Die deutschen Anteile an der Weltproduktion bei der damals für die Entwicklung der Industrie so wichtigen Stahl- und Roheisenherstellung und beim Kohleabbau liegen schon kurz nach der Jahrhundertwende höher als die der englischen Wirtschaft. Die Firmen Siemens und AEG führen Deutschland an die Spitze auf dem Weltmarkt der Elektroindustrie. In Ludwigshafen, Leverkusen und Höchst am Main entwickelt sich die Chemieindustrie steil nach oben. In Berlin wird das Kaiser-Wilhelm-Institut für die Eliteforschung gegründet und in Deutschland werden mehr Patente angemeldet als in jeder anderen Nation.
Die Städte wachsen. In Berlin sind es 1910 4,8 Millionen Einwohner. Die rasche Zuwanderung stellt die Kommunen vor schier unlösbare Probleme. Billige |172| Wohnblocks werden aus dem Boden gestampft, die hygienischen Verhältnisse sind zwar besser als in den vorausgegangenen Jahrhunderten, aber immer noch schlimm. Viele Wohnungen haben kein fließendes Wasser, es gibt nur Gemeinschaftstoiletten und die Abfallberge verschärfen die Ansteckungsgefahr. In die riesigen Reihen der dunklen Hinterhöfe dringt kein Sonnenstrahl. Dafür wachsen in den Vierteln der Vornehmen die Villen und in den besseren Gegenden die im historistischen Stil gebauten stattlichen Häuserreihen für das Bürgertum.
Von 1870 bis 1910 wächst die Einwohnerzahl in Deutschland um fast 60 Prozent auf knapp 65 Millionen Menschen. Es gibt viele Gründe für dieses Wachstum: Der Arzt Robert Koch entdeckt das Tuberkulosebakterium und den Choleraerreger. Impfungen verhindern Massenepidemien. Die Kindersterblichkeit sinkt dank der Erkenntnis deutlich, dass bessere hygienische Verhältnisse besonders die Kleinkinder schützen. Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt. Vom Osten wandern Millionen von Landarbeitern in die Industriezentren des Westens. Bevorzugte Ziele sind die Rhein-Main-Region und das Ruhrgebiet. Noch heute erinnern in Essen, Dortmund oder Gelsenkirchen die vielen polnischen Familiennamen an die Zuwanderung der Bergleute, die wir als Gastarbeiter bezeichnen würden.
1907 gibt es im Reich 17,8 Millionen Arbeiter und 6,4 Millionen Arbeiterinnen. Aber diese Gruppe ist nicht so einheitlich, wie die Sozialisten es glauben. Facharbeiter und Hilfsarbeiter, Industriearbeiter und Arbeiter in Handwerksbetrieben haben oft ganz unterschiedliche Interessen zu verteidigen. Das Einkommen ist in den wilhelminischen Jahren knapp, auch wenn die Löhne in Deutschland im Durchschnitt etwas höher liegen als in England oder Frankreich. Wohl deshalb steht die Arbeiterschaft dem Kaiserreich in seiner Endphase nicht so völlig ablehnend gegenüber, wie die radikalen Äußerungen der Sozialdemokraten es erscheinen lassen. Hinzu kommen die Angestellten, deren Zahl in den Behörden und Verwaltungen bis 1907 auf 3,17 Millionen ansteigt. Insgesamt sind damit nahezu 28 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig. Immer noch sind die meisten von ihnen in Kleinbetrieben beschäftigt. Betriebe mit mehr als 200 Mitarbeitern gibt es im Bergbau, in der Hüttenindustrie und im Maschinenbau. Die Großen haben mehr als 1 000 Arbeiter. Die Giganten unter ihnen sind Krupp mit 64 300 Beschäftigten oder die Gelsenkirchner Bergwerks Aktien-Gesellschaft mit 31 250. Die wichtigsten deutschen Banken sind schon 1848/56 und 1869/72 gewachsen. Jetzt werden die »Deutsche Bank«, die »Dresdner Bank«, die »Diskonto-Gesellschaft«, die »Berliner-Handels Gesellschaft |173| « oder die »Commerzbank« mit schwindelerregenden Bilanzsummen zum Treibriemen der Reichsindustrie.
All diese Zahlen zeigen, dass Deutschland in der Regierungszeit von Kaiser Wilhelm II. umwälzende Veränderungen erlebt. Aus dem Agrarstaat, den Bismarck einigt, ist ein gewaltiger Industriestaat geworden. Das geht natürlich nicht spurlos an der deutschen Politik vorüber. Die Historiker werden später vom »ruhelosen« oder »nervösen« Reich sprechen, wenn sie seine Geschichte erzählen.
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