Die Geschichte der Deutschen
Sie meinen damit vor allem die Jahrzehnte zwischen 1890 und 1914.
Aber gilt die These von der unruhigen Angespanntheit, der wachsenden Nervosität nicht für ganz Europa? Wird das Bild der Menschen von sich und von der Welt, in der sie leben, um die Jahrhundertwende nicht erneut mit Entdeckungen und Entwicklungen konfrontiert, die alle Gesellschaften verwirren und verunsichern? In Wien, in der Berggasse19, lebt der Arzt Sigmund Freud. Seine ersten Schriften über das »Unbewusste« und die dunklen Tiefen unseres Ichs erscheinen in den neunziger Jahren. Freuds Psychoanalyse entzaubert unser stolzes Selbstbildnis. 1900 veröffentlicht Max Planck seine Quantentheorie. Da geht es um Atome, Moleküle und Elektronen, um Dinge, die unserem Auge bisher verborgen waren. Es ist der Anfang einer Physik, die für das 20. Jahrhundert Fluch und Segen, Fortschritt und Zerstörung bereithält. 1903 gelingt den Brüdern Wright der erste Motorflug. Der Mensch kann fliegen. 1905 entwickelt Albert Einstein die Relativitätstheorie und stellt unsere Vorstellungen von Zeit und Raum auf den Kopf. Nur ein Jahr darauf komponiert der Österreicher Arnold Schönberg seine Kammersinfonie 1, die in unseren Harmonie gewohnten Ohren atonal klingt. 1908 öffnet in Paris die erste Kubistenausstellung ihre Tore. Die Kunst beginnt, die Welt in ihre Einzelteile zu zerlegen. Der in Deutschland lebende russische Maler Wassily Kandinsky schafft 1910 das erste abstrakte, gegenstandslose Bild der Kunstgeschichte.
Der Klang der Welt ist nicht mehr harmonisch, die Ästhetik nicht mehr »schön«. Wissenschaftler und Künstler entlarven gültige Gewissheiten als Schein und zeigen, dass hinter der erkennbaren Wirklichkeit unbekannte Wahrheiten warten. Zumindest die Gebildeten in den europäischen Staaten spüren die Zeitenwende und ihre Antworten lassen tiefe Ratlosigkeit ahnen. Die wachsende Aggressivität macht sich in allen Bereichen bemerkbar, in Politik und Wirtschaft ebenso wie in den dekadenten, Kraft, Erotik und Todessehnsucht preisenden Werken der Kunst und Literatur. Sie ist die Reaktion auf die Verunsicherungen und Zukunftsängste, die sich angesichts einer angeblich schlaff gewordenen, unheroischen Gegenwart mehr und mehr rühren. Ist es da so verwunderlich |174| , dass die Menschen beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 auf den Straßen der europäischen Metropolen tanzen? Dass sie die Väter, Ehemänner und Söhne blumenbekränzt auf die Reise in den Tod schicken? »Auf Wiedersehen in Paris!« steht mit Kreide auf den Eisenbahnwaggons geschrieben, in denen die Soldaten fröhlich winkend in die Schlacht fahren. Endlich gibt es eine Antwort auf die pessimistische Endzeitstimmung des Fin de Siècles. Niemand ahnt damals, wie blutig diese Antwort letztlich ausfallen wird. Thomas Mann schreibt 1915: »Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.« Unzählige Menschen in Europa haben so gedacht und empfunden.
Wilhelm II. (1854–1941)
Der Kaiser, der 1888 den deutschen Thron besteigt, hat seinem Zeitalter den Namen gegeben, weshalb wir heute von »Wilhelminismus« oder dem »wilhelminischen Reich« sprechen. Wilhelm II. prägt mit seinem Auftreten diesen Staat in seiner öffentlichen Darstellung wie kein anderer. Denn er repräsentiert in seinen Regierungsjahren das Reich in so auffälliger Weise, dass die Nachbarn stets das Bild des Kaisers vor Augen haben, wenn sie an Deutschland denken.
Er ist überall dabei und er redet über alles. Keine Denkmalseinweihung, keine Schiffstaufe, kein Heeres- oder Flottenmanöver, keine Hochschulgründung, kein Schulkongress, keine Ausstellungseröffnung, kein Festgottesdienst, kein größeres Firmenjubiläum ohne den Kaiser und seine Festreden. Er weist seine Generäle auf die richtige Manöverstrategie hin und erzählt den Universitätsprofessoren oder Studienräten, was es in ihrem Fach Wissenswertes zu vermitteln gilt. Er schwadroniert von der »Rinnsteinkunst« und kündigt sein Abonnement, als Gerhart Hauptmanns naturalistische Dramen im Berliner Schauspielhaus aufgeführt werden, weil er zum Beispiel in den Webern sehr drastisch auf die Bühne bringt, was diese unter dem Fortschritt der Industrie erleiden müssen. Er mahnt die Untertanen, ein moralisches Eheleben zu führen und gottesfürchtig zu sein. Die amtlichen Akten, die ihm vorgelegt werden, versieht er mit einer Fülle besserwisserischer und nicht ungefährlicher Anmerkungen.
Wilhelm II. ist
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