Die Geschichte der Deutschen
vieles mehr. Die Sozialisten geben sich im Kaiserreich ein marxistisches und verbal ziemlich radikales Ansehen, vertreten aber in der Praxis überaus pragmatisch und gemäßigt die Interessen der Arbeiterschaft. Unterstützung finden sie bei den Gewerkschaften, die allerdings erst ab 1900 im Reich anerkannt sind.
August Bebel (1840–1913)
Als ein Arbeiter in Hamburg 1893 Kaiser Wilhelm II. lobt, unterbricht ihn ein Kollege mit der Bemerkung: »Mein Kaiser ist Bebel!« Mit dieser beherzten Entgegnung spricht er vielen Genossen aus der Seele. August Bebel ist die sozialdemokratische Leitfigur des Kaiserreiches. Seine Haltung in den innerparteilichen Auseinandersetzungen ist konsequent, aber auch pragmatisch. Er ist ein mitreißender Redner, und als er 1868 wegen »Verbreitung staatsgefährdender Lehren« zu drei Wochen Gefängnis verurteilt wird, ist er in Parteikreisen sozusagen »geadelt«. Auch während des deutsch-französischen Krieges 1870 sitzt er in Untersuchungshaft. Später muss er wegen »Majestätsbeleidigung« eine zweijährige Festungshaft verbüßen. Für Bebel sind dies Zeiten zum intensiven Studium der sozialistischen Literatur. So kann er auf das Erfurter Programm der SPD ebenso wie auf die Parteipresse, insbesondere auf den Vorwärts, starken Einfluss ausüben. Im Streit »Marxismus und Revolution gegen Revisionismus und Reformen« stellt er sich auf die Seite der Marxisten.
|167| Geboren ist Bebel in Köln. Sein Vater ist Unteroffizier, und so wächst er in der Kaserne eines preußischen Infanterieregimentes auf. Nach einer Drechslerlehre geht er auf Wanderschaft und lässt sich in Leipzig nieder, wo er einen eigenen Handwerksbetrieb gründet. Ab Frühjahr 1867 ist er Mitglied des Norddeutschen Reichstags. Schon dort macht er mit radikalen Formulierungen auf sich aufmerksam. Er wolle, erklärt er am 24. April 1869, mit allen Mitteln so lange kämpfen, »bis dieses System in Grund und Boden zerschlagen und zertrümmert ist«. Bebel ist einer der Gründungsväter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und beteiligt sich in den kommenden Jahren federführend an allen Neugründungen und Verschmelzungen der Arbeiterorganisationen.
Bismarck sind diese Sozialisten ein Dorn im Auge. Wie fast alle Konservativen ist er vom Revolutionswillen der SPD überzeugt. Ein fehlgeschlagenes Attentat auf den Kaiser bietet ihm den willkommenen Anlass, um die Partei der Arbeiter als Machtfaktor auszuschalten. Wider besseres Wissen schiebt er den Genossen die Schuld in die Schuhe und erlässt 1878 die Sozialistengesetze. Sie sind Bismarcks Kampfansage an die Sozialdemokratie. Die Partei und ihre Presse, die Gewerkschaftsverbände und überhaupt alle politischen Versammlungen werden verboten. Viele führende Parteimitglieder gehen in die Emigration. Doch dieses Mal scheitert die Intrigenpolitik des Reichskanzlers. 1890 hebt Kaiser Wilhelm II. die Sozialistengesetze auf. Die Partei erringt bei den darauf folgenden Reichstagswahlen mit 1,4 Millionen die meisten Wählerstimmen.
August Bebel ist als Reichstagsabgeordneter vor den Verboten und einer Ausweisung geschützt, was ihn nicht davon abhält, die Untergrundarbeit der Partei mit zu organisieren. In den internen Richtungskämpfen der SPD bewährt sich Bebel als geschickter Taktiker. Zwischen den ungeduldigen, radikalen Kräften und dem auf Legalität setzenden Flügel vermittelt er immer wieder erfolgreich. So hält er die in permanente theoretische Debatten verwickelte Partei zusammen. Erst im Streit um die Kriegskredite wird sich die SPD im Ersten Weltkrieg spalten. Aber da ist Bebel schon tot.
Als Bismarck seinen harten Kurs aufgibt und versucht mit einer neuen Sozialgesetzgebung die Arbeiterschaft für das Reich zu gewinnen, verweigert Bebel im Reichstag nicht seine Mitarbeit. Ab 1883 verabschieden die Abgeordneten Gesetze zur Unfall-, Kranken-, Invaliditäts- und Altersversicherung. Ihre materielle Wirkung ist zwar sehr gering, aber Deutschland hat damit als erster Industriestaat soziales Neuland betreten. Die Distanz der Arbeiter, vorrangig der sozialdemokratischen Parteimitglieder, zum Kaiserreich kann Bismarck damit allerdings kaum verringern.
|168| Bebel bleibt auch nach der Aufhebung der Sozialistengesetze der »Zuchtmeister« der Partei. Als Fraktionsvorsitzender der SPD im Reichstag betreibt er eine ebenso fundamentale wie konstruktive Opposition. Bei aller radikalen Rhetorik bleibt er immer Realist. Deutlich sieht er, dass der Reichstag allenfalls
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