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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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bewahre mein Manuskript in einer Schachtel im Backofen auf. Ich nahm es heraus, legte es auf den Küchentisch und zog ein Blatt Papier in die Schreibmaschine ein. Lange saß ich vor der leeren Seite. Mit zwei Fingern suchte ich einen Titel:

 
    LACHEND & WEINEND

 
    Ich überlegte ein paar Minuten. Es war nicht das Richtige. Ich fügte ein Wort hinzu.

 
    LACHEND & WEINEND & SCHREIBEND

 
    Dann noch eins:

 
    LACHEND & WEINEND & SCHREIBEND & WARTEND

 
    Ich knüllte das Blatt zu einem Ball und ließ es zu Boden fallen. Ich setzte den Wasserkessel auf. Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Eine Taube gurrte auf dem Fenstersims. Sie plusterte sich auf, trippelte hin und her und flog eine Runde. Frei wie ein Vogel sozusagen. Ich gab ein neues Blatt in die Maschine und tippte:

 
    WÖRTER FÜR ALLES

 
    Bevor ich meine Meinung erneut ändern konnte, zog ich es heraus, legte es oben auf den Stapel und klappte den Deckel der Schachtel zu. Ich fand ein Stück braunes Papier und packte sie ein. Vorne drauf schrieb ich die Adresse meines Sohnes, die ich auswendig weiß.
    Ich wartete, dass etwas geschah, aber es tat sich nichts. Kein Windsturm, der alles wegfegte. Kein Herzinfarkt. Kein Engel an der Tür.
    Es war fünf Uhr morgens. Es würde noch Stunden dauern, bis die Post aufmachte. Um mir die Zeit zu vertreiben, zog ich den Diaprojektor unter dem Sofa hervor. Das tue ich nur zu besonderen Anlässen, sagen wir, an meinem Geburtstag. Ich lege dem Projektor einen Schuhkarton unter, stöpsele ihn ein und knipse den Schalter an. Ein dunstiger Lichtstrahl erhellt die Wand. Das Dia hebe ich in einem Glas im Küchenregal auf. Ich puste, lege es ein, drücke auf Weiter. Das Bild rückt ins Blickfeld. Es zeigt ein Haus mit einer gelben Tür am Rand eines Feldes. Der Herbst geht zur Neige. Zwischen den schwarzen Ästen färbt sich der Himmel orange, dann dunkelblau. Aus dem Schornstein steigt der Rauch von Holzfeuer, und durchs Fenster sehe ich fast meine Mutter, über einen Tisch gebeugt. Ich renne auf das Haus zu. Spüre den kalten Wind auf meinen Wangen. Ich strecke die Hand aus. Und weil ich lauter Traumbilder im Kopf habe, glaube ich einen Moment, ich könnte die Tür aufmachen und einfach hindurchgehen.
    Draußen wurde es schon hell. Vor meinen Augen verblasste das Haus meiner Kindheit allmählich zu nichts. Ich schaltete den Projektor ab, aß einen Müsliriegel und ging aufs Klo. Als ich erledigt hatte, was zu erledigen war, wusch ich mich mit dem Schwamm und kramte im Schrank nach meinem Anzug. Ich fand die Galoschen, die ich gesucht hatte, und ein altes Radio. Schließlich, zerknittert am Boden, den Anzug, einen weißen Sommeranzug, ganz passabel, wenn man über den bräunlichen Flecken vorn hinwegsah. Ich zog mich an. Spuckte in die Handfläche und bändigte mein Haar. In voller Montur saß ich da, das braune Päckchen auf dem Schoß. Wieder und wieder prüfte ich die Adresse. Um 8.45 Uhr zog ich meinen Regenmantel an und klemmte das Päckchen unter den Arm. Im Flur sah ich mich ein letztes Mal im Spiegel an. Dann ging ich zur Tür und in den Morgen hinaus.

DIE TRAURIGKEIT MEINER MUTTER
    1. ICH HEISSE ALMA SINGER
Als ich geboren wurde, nannte meine Mutter mich nach jedem Mädchen in dem Buch Die Geschichte der Liebe, das mein Vater ihr geschenkt hatte. Meinen Bruder nannte sie Emanuel Chaim, nach dem jüdischen Historiker Emanuel Ringelblum, der im Warschauer Ghetto Milchkannen voller Zeitzeugnisse begrub, und dem jüdischen Cellisten Emanuel Feuermann, einem der großen musikalischen Wunderkinder des zwanzigsten Jahrhunderts, und auch nach dem genialen jüdischen Schriftsteller Isaak Emmanuilowitsch Babel sowie nach ihrem Onkel Chaim, der ein Witzbold war, ein richtiger Clown, der jedermann dazu brachte, sich kaputtzulachen, und durch die Nazis starb. Aber mein Bruder weigerte sich, darauf zu hören. Wenn Leute ihn fragten, wie er heiße, dachte er sich etwas aus. Er machte fünfzehn oder zwanzig Namen durch. Einen Monat lang sprach er von sich in der dritten Person als Mr.   Fruit. An seinem sechsten Geburtstag sprang er mit Anlauf aus einem Fenster im ersten Stock und versuchte zu fliegen. Er brach sich den Arm und holte sich eine bleibende Narbe an der Stirn. Von da an wurde er nur noch Bird genannt.
    2. WAS ICH NICHT BIN
Es gibt ein Spiel, das mein Bruder und ich oft miteinander spielten. Ich zeigte auf einen Stuhl. «DAS IST KEIN STUHL», sagte ich. Bird zeigte auf den Tisch. «DAS IST KEIN TISCH.» –

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