Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Weg zu ihrem Haus. Ich stürmte durch die Tür, die Treppe hinauf, und überreichte es der einzigen Person in Slonim, an deren Meinung mir etwas lag. An die Wand gelehnt, beobachtete ich ihr Gesicht, während sie las. Draußen wurde es dunkel, aber sie las weiter. Stunden vergingen. Ich rutschte auf den Boden. Sie las und las. Als sie fertig war, blickte sie auf. Lange gab sie keinen Ton von sich. Dann sagte sie, ich solle vielleicht nicht alles erfinden, das mache es schwer, auch nur etwas zu glauben.
Andere hätten vielleicht aufgegeben. Ich fing von vorne an. Diesmal schrieb ich nicht über wirkliche Dinge und nicht über erfundene. Ich schrieb über das Einzige, was ich wusste. Die Seiten häuften sich. Auch nachdem die einzige Person, an deren Meinung mir etwas lag, ein Schiff nach Amerika genommen hatte, fuhr ich fort, Seiten mit ihrem Namen zu füllen.
Nachdem sie weg war, brach die Welt zusammen. Kein Jude war mehr sicher. Es gab Gerüchte über unfassbare Dinge, und weil wir sie nicht fassen konnten, glaubten wir sie nicht, bis wir keine Wahl mehr hatten und es zu spät war. Ich arbeitete in Minsk, verlor aber meine Stelle und kehrte nach Slonim zurück. Die Deutschen stießen nach Osten vor. Sie kamen näher und näher. An dem Morgen, als wir die Panzer heranrollen hörten, sagte mir meine Mutter, ich solle mich im Wald verstecken. Ich wollte meinen jüngsten Bruder mitnehmen, er war erst dreizehn, aber sie sagte, sie kümmere sich selbst um ihn. Warum habe ich gehorcht? Weil es einfacher war? Ich rannte in den Wald. Legte mich still auf den Boden. In der Ferne bellten Hunde. Stunden vergingen. Und dann die Schüsse. So viele Schüsse. Aus irgendeinem Grund schrien sie nicht. Vielleicht konnte ich ihre Schreie auch nicht hören. Danach nur Stille. Mein Körper war taub, ich erinnere mich, ich schmeckte Blut im Mund. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Tage. Ich bin nicht zurückgekehrt. Als ich wieder aufstand, hatte ich alles abgeworfen, was in mir je geglaubt hatte, ich würde Wörter noch für die geringste Lebensregung finden.
Und doch.
Ein paar Monate nach meinem Herzinfarkt, siebenundfünfzig Jahre nachdem ich es aufgegeben hatte, fing ich wieder an zu schreiben. Nur für mich allein, nicht für sonst jemanden, das war der Unterschied. Es kam nicht darauf an, ob ich die Wörter fand; ja mehr noch, ich wusste, es würde unmöglich sein, die richtigen zu finden. Und weil ich akzeptierte, dass das, was ich einst für möglich gehalten hatte, in Wirklichkeit unmöglich war, und weil ich wusste, ich würde niemandem je ein Wort davon zeigen, schrieb ich einen Satz:
Es war einmal ein Junge.
So blieb er stehen, starrte tagelang aus dem ansonsten leeren Blatt hervor. In der folgenden Woche fügte ich einen hinzu. Bald war die ganze Seite voll. Es machte mich glücklich, so als spräche ich laut mit mir selbst, wie ich es manchmal tue.
Einmal sagte ich zu Bruno: Rate, was glaubst du, wie viele Seiten ich schon habe?
Keine Ahnung, sagte er.
Schreib eine Zahl auf, sagte ich, und schieb sie über den Tisch. Er zuckte die Achseln und zog einen Stift aus der Tasche. Mein Gesicht erforschend, dachte er eine oder zwei Minuten nach. Er beugte sich über die Serviette, kritzelte eine Zahl hin und drehte sie um. Ich schrieb die wirkliche Zahl, 301, auf meine eigene Serviette. Wir schoben beide über den Tisch. Ich hob Brunos hoch. Aus Gründen, die ich mir nicht erklären kann, hatte er 200 000 geschrieben. Er nahm meine Serviette, drehte sie um und machte ein langes Gesicht.
Zuweilen glaubte ich, die letzte Seite meines Buches und die letzte meines Lebens wären ein und dasselbe, das Ende meines Buches würde auch mein Ende sein, ein Windsturm würde durch mein Zimmer fahren und die Seiten wegfegen, und wenn die Luft wieder rein wäre von all den flatternden weißen Blättern, würde es still sein im Raum und der Stuhl, auf dem ich eben noch gesessen hatte, leer.
Jeden Morgen schrieb ich ein wenig mehr. 301 Seiten, das ist keine Kleinigkeit. Hin und wieder, wenn ich fertig war, ging ich ins Kino. Für mich ist das immer eine große Sache. Vielleicht kaufe ich mir eine Tüte Popcorn, die ich gegebenenfalls – wenn Zuschauer in der Nähe sind – verschütte. Ich sitze gern vorne, am liebsten so, dass die Leinwand meinen ganzen Blick ausfüllt, damit nichts mich ablenken kann von diesem Moment. Und dann wünsche ich mir, der Moment möge ewig dauern. Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich es mich
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