Die Geschichte der Liebe (German Edition)
runzelte die Stirn. «Wie?», fragte ich aufgeregt. «Wie heißt sie?» – «Mereminski», sagte meine Mutter. «Mereminski», wiederholte ich. Sie nickte. «M-E-R-E-M-I-N-S-K-I. Mereminski. Polnisch. Einer der wenigen Hinweise, die etwas über Litvinoffs Herkunft verraten.» Ich rannte wieder nach oben, kletterte ins Bett, knipste die Taschenlampe an und öffnete den dritten Band von Wie man in der Wildnis überlebt. Neben Alma schrieb ich Mereminski .
Am nächsten Tag begann ich sie zu suchen.
DER ÄRGER MIT DEM DENKEN
Wenn Litvinoff im Lauf der Jahre immer mehr hustete – ein trockener Husten, der seinen ganzen Körper schüttelte, dass er sich krümmte, und ihn zwang, sich beim Abendessen vom Tisch zu entschuldigen, Anrufe nicht entgegenzunehmen und gelegentliche Einladungen zu öffentlichen Reden abzulehnen –, so nicht so sehr, weil er krank gewesen wäre, sondern weil da etwas war, was er sagen wollte. Je mehr Zeit verging, umso mehr wünschte er, es zu sagen, und umso unmöglicher zu sagen wurde es. Manchmal erwachte er in Panik aus seinen Träumen. Rosa! , rief er dann. Aber noch ehe die Worte aus seinem Munde waren, spürte er ihre Hand auf seiner Brust, und beim Klang ihrer Stimme – Was ist, Liebling? Was ist denn nur? – verlor er den Mut, überwältigt von der Furcht vor den Konsequenzen. Und so sagte er, statt zu sagen, was er sagen wollte: Es ist nichts. Nur ein schlechter Traum, und wartete, bis sie wieder eingeschlafen war, bevor er die Bettdecke wegschob und auf den Balkon hinausging.
Als er jung gewesen war, hatte Litvinoff einen Freund gehabt. Es war nicht sein bester, aber ein guter Freund gewesen. Das letzte Mal hatte er diesen Freund an dem Tag gesehen, als er Polen verließ. Der Freund stand an einer Straßenecke. Ihre Wege hatten sich schon getrennt, aber beide wandten sich zurück, um dem anderen hinterherzusehen. Lange standen sie so da. Der Freund hielt seine in der Faust zusammengeraffte Mütze gegen die Brust gepresst. Er hob die Hand, winkte Litvinoff zum Gruß und lächelte. Dann zog er die Mütze über die Augen, drehte sich um und verschwand mit leeren Händen in der Menge. Inzwischen verging kein Tag, an dem Litvinoff nicht an diesen Moment oder an diesen Freund dachte.
Manchmal, wenn er nachts nicht schlafen konnte, ging Litvinoff ins Arbeitszimmer und holte sein Exemplar der Geschichte der Liebe heraus. Das vierzehnte Kapitel, «Die Fadenzeit», hatte er so oft gelesen, dass sich das Buch mittlerweile von selbst an dieser Stelle aufschlug:
So viele Wörter gehen verloren. Sie schlüpfen aus dem Mund, verlieren den Mut und streifen ziellos umher, bis sie wie trockene Blätter in den Rinnstein gekehrt werden. An Regentagen hört man ihren Nachklang vorbeirauschen: IchwareinschönesMädchenBittegehnichtIchglaube-
meinKörperistauchausGlasIchhabeniejemanden-geliebtIchfindemichkomischVerzeihmir …
Es gab eine Zeit, da es nicht ungewöhnlich war, Wörter an einem Stück Faden zu führen, wenn zu befürchten stand, dass sie sonst stecken bleiben würden, ehe sie ihr Ziel erreichten. Schüchterne Menschen hatten stets ein kleines Bündel Fäden in der Tasche, aber diejenigen, die als Großmäuler galten, waren nicht weniger darauf angewiesen, da sie, die gewöhnlich von allen überhört wurden, oft nicht mehr weiterwussten, wenn sie sich bei jemandem Gehör verschaffen wollten. Die physische Distanz zwischen zwei Menschen, die einen Faden benutzten, war oft gering; und manchmal wurde der Faden, je geringer die Distanz, umso dringender gebraucht.
Erst viel später kam die Gewohnheit auf, an beiden Enden des Fadens Büchsen zu befestigen. Manche sagen, diese Gewohnheit sei dem unwiderstehlichen Drang verwandt, uns Muscheln an die Ohren zu pressen, um das letzte Echo des ersten Ausdrucks der Welt zu hören. Andere sagen, sie stamme von einem Mann, der das Ende eines Fadens hielt, den ein nach Amerika fahrendes Mädchen über dem Ozean abgerollt habe.
Als die Welt größer wurde und es nicht mehr genug Faden gab, um die Dinge, die Menschen sagen wollten, vor dem Verschwinden in den Weiten des Raumes zu bewahren, wurde das Telefon erfunden.
Manchmal ist kein Faden lang genug, dass gesagt werden kann, was gesagt werden muss. In solchen Fällen kann der Faden, in welcher Form auch immer, nicht mehr tun, als das Schweigen der Person zu lenken.
Litvinoff hustete. Das gedruckte Buch in seinen Händen war die Kopie einer Kopie einer Kopie einer Kopie des Originals, das nicht
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