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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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geglaubt, die Möglichkeiten des menschlichen Schweigens seien endlos. Aber als die Kugeln sich aus den Gewehren lösten, wurde sein Körper von der Wahrheit durchsiebt. Und etwas in ihm lachte bitter, denn wie konnte er nur vergessen haben, was er doch immer gewusst hatte: An Gottes Schweigen kommt kein Mensch heran.
     
    Litvinoff ließ die Seite fallen. Er war wütend. Wie konnte sein Freund, der nach Lust und Laune schreiben mochte, über was er wollte, das einzige Thema stehlen, über das er, Litvinoff, etwas geschrieben hatte, auf das er stolz war? Er fühlte sich verhöhnt und erniedrigt. Er wollte seinen Freund aus dem Bett zerren und zur Rede stellen. Aber nach einer Weile beruhigte er sich und las es noch einmal, und dabei erkannte er die Wahrheit. Sein Freund hatte nichts gestohlen, was ihm gehörte. Wie hätte er das auch gekonnt? Der Tod eines Menschen gehört niemand anderem als dem Gestorbenen selbst.
    Traurigkeit überkam ihn. All diese Jahre hatte Litvinoff sich eingebildet, er sei seinem Freund so ähnlich. Er war stolz auf das gewesen, was er für ihre Verwandtschaft gehalten hatte. Aber in Wahrheit war er dem Mann, der zwei Meter entfernt im Bett gegen ein Fieber kämpfte, nicht ähnlicher als der eben hinausgeschlichenen Katze: Sie gehörten verschiedenen Arten an. Es lag auf der Hand, dachte Litvinoff. Man brauchte sich nur anzusehen, wie sie beide ein und dasselbe Thema behandelt hatten. Wo er eine Seite voller Wörter sah, sah sein Freund ein Feld voller Unsicherheiten, dunkler Löcher und Möglichkeiten zwischen den Wörtern. Wo sein Freund gesprenkeltes Licht, die Glückseligkeit des Fliegens, das Traurige an der Schwerkraft sah, sah er die solide Gestalt eines gemeinen Spatzen. Litvinoffs Leben war durch die Freude an der Bedeutung des Realen definiert, das seines Freundes durch die Ablehnung der Realität mit ihren Heerscharen platter Fakten. Als Litvinoff im dunklen Fenster sein Spiegelbild erblickte, hatte er den Eindruck, ihm sei etwas abgestreift worden, und eine Wahrheit enthüllte sich ihm: Er war ein Durchschnittsmensch. Einer, der die Dinge nehmen wollte, wie sie waren, und dem darum das Potenzial fehlte, in irgendeiner Weise originell zu sein. Und obwohl er darin in jeder Weise Unrecht hatte, ließ er sich nach dieser Nacht durch nichts mehr eines Besseren belehren.
    Unter DER TOD DES ISAAK BABEL lag eine andere Seite. Während ihm Tränen des Selbstmitleids in den Nebenhöhlen brannten, las Litvinoff weiter.
FRANZ KAFKA IST TOT
Er starb auf einem Baum, von dem er nicht herunterwollte. «Komm runter!», riefen sie ihm zu. «Komm runter! Komm runter!» Stille erfüllte die Nacht, und die Nacht erfüllte die Stille, während sie darauf warteten, dass Kafka sprach. «Ich kann nicht», sagte er schließlich in einem Anflug von Wehmut. «Warum?», riefen sie. Sterne rieselten über den schwarzen Himmel. «Weil ihr dann nichts mehr von mir wollt.» Die Menschen flüsterten untereinander und nickten. Sie legten die Arme umeinander und strichen ihren Kindern übers Haar. Sie zogen ihren Hut vor dem kleinen, kränklichen Mann mit den Ohren eines seltsamen Tieres, der in seinem schwarzen Samtanzug auf dem dunklen Baum saß. Dann drehten sie sich um und machten sich auf, unter dem Blätterdach nach Hause zu gehen. Kinder wurden von ihren Vätern auf den Schultern getragen, schläfrig, nachdem sie mitgenommen worden waren, den Mann zu sehen, der seine Bücher auf Rinde schrieb, die er von dem Baum abriss, von dem er nicht herunterwollte. In seiner feinen, schönen, unleserlichen Handschrift. Und sie bewunderten diese Bücher, bewunderten seinen Willen und sein Durchhaltevermögen. Denn schließlich: Wer wünscht sich nicht, aus seiner Einsamkeit ein Schauspiel zu machen? Eine nach der anderen brachen die Familien auf, mit einem gute Nacht und einem Händedruck, plötzlich dankbar für die Gesellschaft von Nachbarn. Türen zu warmen Häusern schlossen sich. In den Fenstern wurden Kerzen angezündet. Weit entfernt, auf seinem Ast in den Bäumen, lauschte Kafka alledem: dem Rascheln von Kleidern, die auf den Boden fielen, wispernden Lippen, die über nackte Schultern fuhren, dem Knarren von Betten unter dem Gewicht der Zärtlichkeit. All das fing sich in den feinen, spitzen Muscheln seiner Ohren und rollte wie Flipperkugeln durch die große Halle seines Geistes.
In dieser Nacht kam ein frostiger Wind auf. Als die Kinder erwachten, liefen sie ans Fenster und fanden die Welt mit Eis bedeckt. Ein

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