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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Tag stand der Nachruf in der Zeitung. Der Chefredakteur rief ihn in sein Büro und gratulierte ihm zu seiner Leistung. Auch einige Kollegen machten ihm Komplimente. Und als er seinen Freund an diesem Abend im Café traf, war auch er des Lobes voll. Glücklich und stolz bestellte Litvinoff eine Runde Wodka.
    Ein paar Wochen danach erschien sein Freund nicht wie gewohnt im Café. Litvinoff wartete anderthalb Stunden, dann gab er auf und ging nach Hause. Am nächsten Abend wartete er wieder, und wieder kam sein Freund nicht. Besorgt machte Litvinoff sich auf den Weg zu dem Haus, wo sein Freund in Pension lebte. Er war noch nie dort gewesen, aber er kannte die Adresse. Als er ankam, war er überrascht, wie verludert und heruntergekommen das Haus war, überrascht über die schmierigen Wände im Eingang und den muffigen Geruch. Er klopfte an die erstbeste Tür. Eine Frau machte auf. Litvinoff fragte nach seinem Freund. «O ja, klar», sagte sie, «der große Schriftsteller.» Sie zeigte mit dem Daumen aufwärts. «Ganz oben rechts.»
    Litvinoff klopfte fünf Minuten, bis er von innen endlich die schweren Schritte seines Freundes hörte. Als die Tür aufging, stand sein Freund im Schlafanzug da, blass und abgezehrt. «Was ist los?», fragte Litvinoff. Sein Freund zuckte die Achseln und hustete. «Pass auf, sonst steckst du dich noch an», sagte er und schleppte sich ins Bett zurück. Litvinoff stand verlegen in dem beengten Zimmer, wusste nicht, wie er helfen sollte. Schließlich meldete sich eine Stimme aus den Kissen: «Eine Tasse Tee wäre nett.» Er eilte in die Ecke, wo eine improvisierte Kochstelle eingerichtet war, und klapperte auf der Suche nach dem Kessel herum («Auf dem Ofen», rief sein Freund schwach). Während das Wasser heiß wurde, öffnete er das Fenster, um etwas frische Luft hereinzulassen, und spülte die schmutzigen Teller. Als er die dampfende Tasse Tee ans Bett brachte, sah er, dass sein Freund vor Fieber zitterte, also machte er das Fenster wieder zu und ging nach unten, um von der Vermieterin eine zusätzliche Decke zu holen. Dann schlief sein Freund ein. Da Litvinoff nicht wusste, was er tun sollte, setzte er sich auf den einzigen Stuhl im Raum und wartete. Nach einer Viertelstunde miaute eine Katze an der Tür. Litvinoff ließ sie herein, aber als sie sah, dass ihr Mitternachtsgefährte unpässlich war, stolzierte sie wieder hinaus.
    Vor dem Stuhl stand ein Holztisch. Die Platte war mit verstreuten Seiten bedeckt. Eine fiel Litvinoff ins Auge, und indem er sich mit einem flüchtigen Blick vergewisserte, ob sein Freund auch fest schlief, nahm er sie in die Hand. Oben stand: DER TOD DES ISAAK BABEL.
     
Erst nachdem sie ihm das Verbrechen des Schweigens vorgeworfen hatten, entdeckte Babel, wie viele Arten des Schweigens es gab. Wenn er Musik hörte, lauschte er nicht mehr den Tönen, sondern der Stille zwischen ihnen. Wenn er ein Buch las, gab er sich ganz den Kommata und Semikola hin, dem Raum hinter dem Punkt, vor dem Großbuchstaben am Anfang des nächsten Satzes. Er entdeckte die Stellen in einem Raum, an denen sich das Schweigen sammelte: den Faltenwurf der Vorhänge, die tiefen Schalen des Familiensilbers. Er lernte, die Bedeutung gewisser Arten des Schweigens zu entziffern, wie bei der Lösung eines schwierigen Falles ohne den geringsten Hinweis, allein durch Intuition. Und niemand konnte ihm vorwerfen, in seinem erwählten Beruf nicht produktiv zu sein. Täglich brachte er ganze Epen des Schweigens hervor. Am Anfang war es ihm schwer gefallen. Man stelle sich die Belastung vor, wenn das Kind einen fragt, ob Gott existiert, wenn die Frau, die man liebt, wissen will, ob man ihre Liebe erwidert. Zuerst sehnte sich Babel danach, wenigstens zwei Wörter zu gebrauchen: ja und nein. Aber er wusste, wenn er auch nur ein einziges Wort ausstieß, würde es den zarten Fluss des Schweigens zerstören.
Selbst nachdem sie ihn verhaftet und seine Manuskripte verbrannt hatten, die aus lauter leeren Seiten bestanden, weigerte er sich zu sprechen. Nicht einmal ein Stöhnen, wenn sie ihm einen Schlag auf den Kopf, einen Fußtritt in den Unterleib versetzten. Erst im allerletzten Augenblick, als er dem Erschießungskommando gegenüberstand, ahnte der Schriftsteller Babel plötzlich, dass er sich geirrt haben könnte. Als die Gewehre auf seine Brust gerichtet waren, fragte er sich, ob das, was er für den Reichtum des Schweigens gehalten hatte, nicht eigentlich die Armut war, nie gehört zu werden. Er hatte

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