Die Geschichte der Liebe (German Edition)
mehr existierte, außer in seinem Kopf. Nicht im Sinne des idealen Buches, das ein Schriftsteller sich vorstellt, bevor er sich zum Schreiben hinsetzt. Das Original in Litvinoffs Kopf war die Erinnerung an das handschriftliche Manuskript in seiner Muttersprache, das er an jenem Tag in Händen gehalten hatte, als er seinem Freund zum letzten Mal adieu sagte. Sie wussten nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Aber im Innersten hatte sich jeder das gefragt.
Damals war Litvinoff Journalist gewesen. Er hatte bei einer Tageszeitung gearbeitet und Nachrufe geschrieben. Abends, nach der Arbeit, ging er gelegentlich in ein Café, in dem Künstler und Philosophen verkehrten. Weil Litvinoff dort kaum jemanden kannte, bestellte er meist etwas zu trinken, tat so, als lese er längst gelesene Zeitungen, und lauschte den Gesprächen um ihn her:
– Der Gedanke einer Zeit außerhalb unserer Erfahrung ist unerträglich!
– Bleib mir weg mit Marx.
– Der Roman ist tot!
– Ehe wir zustimmen, müssen wir sorgfältig prüfen …
– Befreiung ist nur ein Mittel, Freiheit zu erlangen; sie ist kein Synonym!
– Malewitsch? Mein Rotz ist interessanter als dieser Arsch.
– Und das, mein Freund, ist der Ärger mit dem Denken!
Manchmal, wenn Litvinoff mit jemandes Argumenten nicht einverstanden war, lieferte er im Kopf eine glänzende Replik.
Eines Abends hörte er eine Stimme hinter sich: «Muss ein guter Artikel sein – du liest ihn schon seit einer halben Stunde.» Litvinoff fuhr zusammen, und als er aufblickte, lächelte ihn von oben das vertraute Gesicht seines alten Kindheitsfreundes an. Sie umarmten einander und ließen die leichten Veränderungen, die die Zeit im Aussehen des anderen hinterlassen hatte, auf sich wirken. Litvinoff hatte immer eine gewisse Geistesverwandtschaft mit diesem Freund empfunden und wollte unbedingt wissen, was er in den letzten Jahren gemacht habe. «Gearbeitet, wie jeder andere», sagte der Freund und zog sich einen Stuhl heran. «Und deine Schriftstellerei?», fragte Litvinoff. Sein Freund zuckte die Achseln. «Nachts ist es ruhig. Da stört mich niemand. Nur die Katze des Vermieters kommt und setzt sich mir auf den Schoß. Meist schlafe ich am Tisch ein und wache auf, wenn sie beim ersten Tageslicht nach draußen schleicht.» Und dann lachten sie beide, ohne einen Grund.
Von da an trafen sie sich jeden Abend im Café. Mit wachsendem Grauen diskutierten sie die Truppenbewegungen der Nazis und was über das Vorgehen gegen die Juden gemunkelt wurde, bis sie zu deprimiert waren, darüber zu sprechen. «Aber vielleicht zu etwas Erfreulicherem», sagte der Freund dann schließlich, und Litvinoff wechselte glücklich das Thema, begierig, eine seiner philosophischen Theorien an seinem alten Freund zu erproben, ihm einen neuen Plan für schnelles Geld mit Damenstrümpfen auf dem Schwarzmarkt zu unterbreiten oder das hübsche Mädchen, das bei ihm gegenüber wohnte, zu beschreiben. Umgekehrt zeigte der Freund Litvinoff gelegentlich ein Stück von dem, woran er gerade arbeitete. Kleine Sachen, einen Absatz hier und dort. Aber Litvinoff war immer bewegt. Schon bei der ersten Seite, die er las, erkannte er, dass sein Freund seit ihrer gemeinsamen Schulzeit ein wirklicher Schriftsteller geworden war.
Ein paar Monate später, als bekannt wurde, dass Isaak Babel von der Moskauer Geheimpolizei ermordet worden war, fiel es Litvinoff zu, den Nachruf zu schreiben. Es war eine wichtige Aufgabe, und er arbeitete hart daran, bemüht, den richtigen Ton für den tragischen Tod eines großen Schriftstellers zu treffen. Er kam nicht vor Mitternacht aus dem Büro, aber als er durch die kalte Nacht nach Hause ging, lächelte er in sich hinein, überzeugt, dass der Nachruf einer seiner besten war. Nur allzu oft war der Stoff, mit dem er arbeiten musste, dünn und dürftig und er darauf angewiesen, aus ein paar Superlativen, Klischees und falschen Lobeshymnen etwas zusammenzuschustern, das dem Leben gerecht wurde und den Tod als einen Verlust erscheinen ließ. Aber diesmal nicht. Diesmal hatte er sich zu dem Stoff erheben, darum ringen müssen, Worte für einen Mann zu finden, der ein Meister des Wortes gewesen war und seine ganze Existenz dem Widerstand gegen das Klischee gewidmet hatte, in der Hoffnung, die Welt mit einer neuen Art des Denkens und des Schreibens, ja sogar einer neuen Art des Fühlens zu beglücken. Und dessen Lohn für alle Mühen der Tod durch ein Erschießungskommando gewesen war.
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