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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Kind, das kleinste, kreischte vor Entzücken, und sein Schrei zerriss die Stille und sprengte das Eis einer riesigen Eiche. Die Welt glitzerte.
Sie fanden ihn erfroren auf der Erde, wie einen Vogel. Es heißt, als sie ihre Ohren an die Muschel seiner Ohren legten, hätten sie sich selbst gehört.

    Unter dieser Seite war eine andere, mit dem Titel TOLSTOIS TOD, und darunter eine für Ossip Mandelstam, der am bitteren Ende des Jahres 1938 in einem Durchgangslager nahe Wladiwostok gestorben war, und unter dieser sechs bis acht weitere. Nur die letzte Seite unterschied sich. Hier stand: DER TOD DES LEOPOLD GURSKY. Litvinoff fühlte einen eisigen Hauch in seinem Herzen. Er warf einen Blick auf seinen Freund, der schwer atmete. Dann begann er zu lesen. Als er fertig war, schüttelte er den Kopf und las es noch einmal. Und danach nochmals. Er las es wieder und wieder, mit den Lippen die Wörter formend, als seien sie keine Ankündigung des Todes, sondern ein Gebet fürs Leben. Als könne er, indem er sie nur aussprach, seinen Freund vor dem Todesengel bewahren, allein durch die Kraft seines Atems die Flügel noch einen Moment in der Schwebe halten, und noch einen Moment – bis der Todesengel aufgab und seinen Freund in Frieden ließ. Die ganze Nacht wachte Litvinoff bei seinem Freund, die ganze Nacht bewegte er die Lippen. Und zum ersten Mal, solange er sich erinnern konnte, fühlte er sich nicht nutzlos.
    Im Morgengrauen sah er mit Erleichterung, dass wieder Farbe ins Gesicht seines Freundes gekommen war. Er schlief den erholsamen Schlaf der Genesung. Als die Sonne so hoch gestiegen war, dass sie acht Uhr anzeigte, stand Litvinoff auf. Er hatte steife Beine. Innerlich fühlte er sich wie ausgeschabt. Aber er war von Glück erfüllt. Er faltete das Blatt, auf dem DER TOD DES LEOPOLD GURSKY stand, in zwei Hälften. Und da ist noch etwas, was niemand von Zvi Litvinoff weiß: Sein Leben lang trug er sie in seiner Brusttasche, jene Seite, die er die ganze Nacht lang daran gehindert hatte, Wirklichkeit zu werden, um ein klein wenig Zeit zu gewinnen – für seinen Freund, für das Leben.

BIS DIE SCHREIBHAND WEHTUT
    Die Seiten, die ich vor so langer Zeit geschrieben hatte, glitten mir aus den Händen und verstreuten sich am Boden. Ich dachte: Wer? Und wie? Und: Nach all diesen – was? Jahren.
    Ich fiel in meine Erinnerungen zurück. Die Nacht verging umnebelt. Morgens stand ich noch immer unter Schock. Es wurde Mittag, ehe ich wieder etwas machen konnte. Ich kniete mich ins Mehl. Sammelte die Seiten auf. Seite zehn ritzte mir den Finger. Seite zweiundzwanzig: Nierenstiche. Bei Seite vier stockte mir das Herz.
    Ein bitterer Witz kam mir in den Sinn. Mir fehlten die Worte . Und doch. Ich grapschte nach den Seiten vor Angst, mein Verstand könnte mir ein Schnippchen schlagen, der nächste Blick nach unten, und sie wären leer.
    Ich ging in die Küche. Der Kuchen sackte auf dem Tisch zusammen. Meine Damen und Herren. Wir haben uns heute versammelt, um die Geheimnisse des Lebens zu feiern. Was? Nein, Steine werfen ist nicht erlaubt. Nur Blumen. Oder Geld.
    Ich fegte die Eierschalen und etwas verrieselten Zucker vom Stuhl und setzte mich an den Tisch. Draußen gurrte meine treue Taube und schlug mit den Flügeln an die Scheibe. Vielleicht hätte ich ihr einen Namen geben sollen. Warum nicht, wo ich mich doch damit geplagt habe, so viele Dinge zu benennen, die weniger real waren als sie. Ich versuchte, mir einen Namen auszudenken, den ich gern gerufen hätte. Ich blickte mich um. Mein Auge blieb auf der Speisekarte des Chinesen haften. Er hat sie seit Jahren nicht geändert. MR. TONG’S BERÜHMTE KÜCHE – KANTONESISCH, SZETSCHUAN UND HUMAN. Ich klopfte ans Fenster. Die Taube flatterte davon. Adieu, Mr.   Tong .
    Ich verbrachte fast den ganzen Nachmittag mit Lesen. Erinnerungen stürmten auf mich ein. Es schwamm mir vor den Augen, ich hatte Mühe, scharf zu sehen. Ich dachte: Ich sehe Gespenster. Ich schob den Stuhl zurück und stand auf. Ich dachte: Masl tow!, dein Verstand , Gursky, jetzt hast du ihn endgültig verloren. Ich goss die Pflanze. Um zu verlieren, muss man gehabt haben. Wie? Auch das noch, ein Korinthenkacker neuerdings? Gehabt, nicht gehabt. Hör dich an! Du hast dir doch das Verlieren zum Beruf gemacht. Ein Meisterverlierer bist du. Und doch. Wo ist der Beweis, dass du sie je gehabt hast? Und wo der, dass du sie je kriegen konntest?
    Ich füllte das Becken mit Spülwasser und begann, die schmutzigen Töpfe

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