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Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman

Titel: Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manesse-Verlag
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mit einer Hand an den Haaren, die mir auf die Schultern herabwallten, mit der anderen ergriff sie ihren Frisierspiegel, dann wandte sie all ihre Kraft auf, um mich so bis zur Tür des Kabinetts zu zerren, und diese mit dem Knie öffnend, bot sie dem Fremden, den der Lärm offenbar mitten im Zimmer hatte erstarren lassen, ein Schauspiel, das ihm kein geringes Erstaunen bereiten musste. Ich sah einen recht wohlgekleideten Mann, doch mit reichlich unschönen Zügen. Trotz der Verlegenheit, in die ihn diese Szene versetzte, versäumte er es nicht, eine tiefe Verbeugung zu machen. Manon ließ ihm nicht die Zeit, auch nur ein Wort zu sagen.
    Sie streckte ihm ihren Spiegel hin: «Sehen Sie, mein Herr», sagte sie zu ihm, «schauen Sie sich nur gut an, und dann lassen Sie mir Gerechtigkeit widerfahren. Sie verlangen Liebe von mir. Hier ist der Mann, den ich liebe und den mein ganzes Leben lang zu lieben ich geschworen habe. Vergleichen Sie selbst. Wenn Sie glauben, ihm mein Herz streitig machen zu können, dann erklären Sie mir, aufgrund welcher Vorzüge, denn ich sage Ihnen, dass in den Augen Ihrer sehr ergebenen Dienerin alle Fürsten Italiens nicht eines der Haare wert sind, die ich hier halte.»
    Während dieser irrwitzigen Rede, die sie sich offenbar vorher ausgedacht hatte, machte ich vergeblich Anstalten, mich zu befreien, und da ich Mitleid zu dem bedeutenden Mann fasste, fühlte ich mich veranlasst, diese kleine Kränkung durch Höflichkeit wieder gutzumachen. Doch gewann er seine Fassung recht leicht wieder, und seine Antwort, die ich einigermaßen grob fand, ließ mich davon Abstand nehmen.
    «Mademoiselle, Mademoiselle», sagte er mit gezwungenem Lächeln, «mir gehen in der Tat die Augen auf, und ich stelle fest, dass Sie weitaus weniger eine Anfängerin sind, als ich mir vorgestellt hatte.»
    Er ging sogleich davon, ohne ihr noch einen Blick zu gönnen, und fügte etwas leiser hinzu, die Frauen Frankreichs seien nicht mehr wert als die Italiens. In dieser Situation hatte ich keinerlei Anlass, ihm eine bessere Meinung vom schönen Geschlecht zu vermitteln.
    Manon ließ mein Haar los, warf sich in einen Sessel und brach in anhaltendes Gelächter aus, von dem das ganze Zimmer widerhallte. Ich verhehle nicht, dass ich bis auf den Grund meines Herzens gerührt war von einem Opfer, das ich einzig der Liebe zuzuschreiben vermochte. Gleichwohl erschien mir der Scherz übertrieben, und ich machte ihr deswegen Vorwürfe.
    Da erzählte sie mir, dass mein Rivale, nachdem er ihr mehrere Tage lang im Bois de Boulogne nachgestellt und ihr durch entsprechende Grimassen seine Gefühle zu verstehen gegeben habe, darauf verfallen sei, ihr unter Preisgabe seines Namens und all seiner Titel eine offene Liebeserklärung zu machen, und zwar in einem Brief, den er ihr durch den Kutscher habe zukommen lassen, der sie und ihre Begleiterinnen wie immer fuhr; darin habe er ihr jenseits der Berge glanzvolles Wohlergehen und ewige Huldigungen versprochen; sie sei mit dem Entschluss nach Chaillot zurückgekehrt, mir von diesem Erlebnis zu erzählen, doch als ihr die Idee gekommen sei, dass wir uns einen Spaß daraus machen könnten, habe sie ihrer Fantasie nicht zu widerstehen vermocht; sie habe dem italienischen Fürsten mittels einer schmeichelhaften Antwort die Erlaubnis gegeben, sie zu Hause zu besuchen, und sich ein zweites Vergnügen daraus gemacht, mich in ihren Plan einzubeziehen, ohne den geringsten Verdacht in mir aufkommen zu lassen.
    Ich sagte ihr kein Wort von dem, was ich auf anderem Weg erfahren hatte, und die Trunkenheit triumphierender Liebe ließ mich alles gutheißen.
    Ich habe im Laufe meines Lebens feststellen müssen, dass der Himmel, wenn er mich mit seinen härtesten Züchtigungen treffen wollte, immer eine Zeit gewählt hat, in der mein Glück besonders fest gegründet schien. Ich glaubte mich angesichts der Freundschaft des Monsieur de T… und der innigen Liebe Manons so gesegnet, dass mir niemals beizubringen gewesen wäre, ich hätte irgend neues Unglück zu fürchten. Und doch braute sich eben jenes unheilvolle Geschick zusammen, das mich in den Zustand versetzte, in dem Sie mich in Pacy angetroffen haben, und nach und nach zu derart beklagenswerten Verzweiflungstaten trieb, dass Sie Mühe haben werden, meinen Bericht für wahrheitsgetreu zu halten.
    Eines Tages, als wir Monsieur de T… zum Nachtmahl zu Gast hatten, vernahmen wir das Geräusch einer Kutsche, die am Tor des Gasthofs anhielt. Verwundert wollten

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