Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
wir wissen, wer zu dieser Stunde noch eintreffen mochte. Man sagte uns, es sei der junge G… M…, also der Sohn unseres schlimmsten Feindes, jenes alten Wüstlings, der mich nach Saint-Lazare und Manon ins Hôpital gebracht hatte. Sein Name trieb mir die Zornesröte ins Gesicht.
«Den schickt mir der Himmel», sagte ich zu Monsieur de T…, «um an ihm die Niedertracht seines Vaters zu strafen. Er soll mir nicht entkommen, ehe wir uns mit dem Degen gemessen haben.»
Monsieur de T…, der ihn kannte und der sogar einer seiner besten Freunde war, gab sich alle Mühe, mich umzustimmen. Er versicherte mir, es handele sich um einen äußerst liebenswürdigen jungen Mann, der so wenig dazu veranlagt sei, an den Handlungen seines Vaters beteiligt gewesen zu sein, dass sogar ich keinen Moment in seiner Gegenwart zubringen könne, ohne ihm meine Wertschätzung zu entbieten und mir die seine zu wünschen. Nachdem er noch tausenderlei Dinge zu seinen Gunsten hinzugefügt hatte, bat er mich um mein Einverständnis, wenn er ihm jetzt vorschlage, sich bei uns niederzulassen und mit dem Rest unseres Nachtmahls vorliebzunehmen.
Dem Hinweis auf die Gefahr, der Manon ausgesetzt werde, wenn der Sohn unseres Feindes Kenntnis von ihrem Aufenthaltsort erhielte, kam er zuvor, indem er bei Ehr und Glauben beteuerte, wir würden, wenn dieser uns erst einmal kenne, keinen eifrigeren Beschützer finden als ihn. Solchermaßen beruhigt erhob ich keine weiteren Einwände. Monsieur de T… brachte ihn erst zu uns, nachdem er sich die Zeit genommen hatte, ihm mitzuteilen, wer wir waren. Er trat mit einer Haltung auf, die uns in der Tat sogleich zu seinen Gunsten einnahm. Er umarmte mich. Wir setzten uns. Er bewunderte Manon, mich und alles, was unser war, und er aß mit einem Appetit, der unserem Nachtmahl jede Ehre machte.
Als man die Tafel abgetragen hatte, wurde das Gespräch ernster. Er senkte den Blick, als er von den Ungeheuerlichkeiten sprach, zu denen sein Vater sich gegen uns hatte hinreißen lassen. Er bat uns ergebenst um Verzeihung. «Ich werde es dabei bewenden lassen», sagte er, «denn ich will keine Erinnerungen auffrischen, die mich mit so tiefer Scham erfüllen.»
Waren seine Bitten schon anfangs aufrichtig, so wurden sie es in der Folge umso mehr, denn unser Gespräch hatte noch keine halbe Stunde gedauert, als ich bemerkte, welchen Eindruck Manons Liebreiz auf ihn machte. Seine Blicke und sein Gebaren wurden immer inniger. Zwar ließ er sich in seinen Äußerungen nichts anmerken, doch auch ohne dass die Eifersucht nachhelfen musste, hatte ich in Liebesdingen zu viel Erfahrung, um nicht zu erkennen, was dieser Quelle entsprang. Er leistete uns während eines Gutteils der Nacht Gesellschaft und brach erst auf, nachdem er sich zu der Bekanntschaft mit uns beglückwünscht und uns um Erlaubnis ersucht hatte, zuweilen wiederzukommen und uns erneut seine Dienste anzubieten. Er verließ uns gegen Morgen zusammen mit Monsieur de T…, der mit ihm in seiner Kutsche Platz nahm.
Wie ich schon sagte, regte sich in mir keinerlei Eifersucht. Mehr denn je schenkte ich den Schwüren Manons Glauben. Das zauberhafte Geschöpf war so unangefochten Herrscherin über meine Seele, dass ich nicht die kleinste Empfindung hatte, die etwas anderes als Wertschätzung und Liebe gewesen wäre. Weit entfernt davon, es ihr zum Vorwurf zu machen, dass der junge G… M… Gefallen an ihr gefunden hatte, war ich entzückt von der Wirkung ihres Zaubers, und ich beglückwünschte mich dazu, von einer jungen Frau geliebt zu werden, die von jedermann als der Liebe wert erachtet wurde. Ich hielt es nicht einmal für angebracht, ihr von meiner Vermutung zu erzählen.
Einige Tage lang waren wir damit beschäftigt, ihre Kleider instand setzen zu lassen, und wir überlegten, ob wir ins Theater gehen konnten, ohne befürchten zu müssen, dass man uns erkannte. Monsieur de T… kam noch vor Ende der Woche wieder zu Besuch. Wir baten ihn in dieser Frage um Rat. Er sah sehr wohl, dass er Ja sagen musste, um Manon eine Freude zu machen. Wir beschlossen, noch am selben Abend mit ihm dorthin zu gehen.
Indessen ließ sich dieser Entschluss nicht ausführen, denn er nahm mich alsbald beiseite und erklärte mir: «Ich bin, seit ich Sie zuletzt sah, in größter Verlegenheit, und der Besuch, den ich Ihnen heute abstatte, hängt damit zusammen. G… M… liebt Ihre Gefährtin. Er hat sich mir anvertraut. Ich bin ein enger Freund von ihm und bereit, ihm in allem zu dienen;
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