Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
schätzen; aber ich besaß Manons Herz, das einzige Gut, das mir schätzenswert war. In Europa leben, in Amerika leben, was bedeutete es mir schon, an welchem Ort ich lebte, solange ich sicher sein konnte, dort glücklich zu sein, weil ich mit meiner Geliebten zusammenlebte? Ist zwei treulich Liebenden nicht das ganze Universum Heimat? Finden sie nicht, einer im anderen, Vater, Mutter, Anverwandte, Freunde, Reichtümer und Glückseligkeit?
Wenn mir denn etwas Sorge bereitete, so war es die Befürchtung, Manon den Zwängen der Armut ausgesetzt zu sehen. Ich stellte mir bereits vor, wie ich mit ihr in eine unzivilisierte Gegend kam, die von Wilden bewohnt wurde. «Gewiss ist wohl», so sagte ich, «dass es keine so grausamen Kreaturen sind wie G… M… und mein Vater. Sie werden uns immerhin in Frieden leben lassen. Wenn die Berichte, die wir über sie haben, zutreffen, dann folgen sie den Gesetzen der Natur. Sie kennen weder die Verbissenheit der Habsucht, von der G… M… besessen ist, noch die abwegigen Ehrbegriffe, die mir meinen Vater zum Feind gemacht haben. Sie werden zwei Liebende nicht behelligen, die sie in ebensolcher Einfachheit leben sehen wie sie selbst.»
In dieser Hinsicht war ich also beruhigt. Doch machte ich mir keinerlei romantische Vorstellungen, was die alltäglichen Bedürfnisse des Lebens anging. Ich hatte schon zu oft erlebt, dass es unerträgliche Entbehrungen gibt, zumal für ein zartes Mädchen wie sie, die ein bequemes Leben in Überfluss gewohnt war. Ich war verzweifelt, dass ich meinen Geldbeutel unnütz geleert hatte und dass das wenige an Geld, was mir geblieben war, mir obendrein durch diese niederträchtigen Wachsoldaten entrissen zu werden drohte. Ich hegte die Hoffnung, dass ich mich in Amerika, wo das Geld knapp war, mit einer kleinen Geldsumme nicht nur eine Zeit lang vor dem Elend bewahren, sondern mir sogar ein kleines Unternehmen für eine dauerhafte Existenz aufbauen könne.
Bei dieser Überlegung kam mir der Gedanke, an Tiberge zu schreiben, der mir immer so bereitwillig seine freundschaftliche Hilfe angeboten hatte. Schon in der ersten Stadt, durch die wir kamen, schrieb ich an ihn. Ich nannte ihm keinen anderen Beweggrund als die drückende Not, in die ich, so sah ich es vorher, bis zur Ankunft in Havre-de-Grâce geriete, wohin ich Manon begleitete, wie ich ihm bekannte. Ich bat ihn um hundert Pistolen. «Weisen Sie sie nach Havre an», schrieb ich, «an den dortigen Postmeister. Sie sehen ja, dass ich Ihre Verbundenheit zum letzten Mal in Anspruch nehme und dass ich meine unglückliche Geliebte, die mir auf immer entrissen werden soll, nicht ohne die eine oder andere Erleichterung fortlassen kann, die ihr Los wie auch meine elenden Leiden lindern mögen.»
Die Wachsoldaten wurden, als sie die Heftigkeit meiner Leidenschaft erkannt hatten, so unerbittlich, dass in meiner Börse, da sie den Preis für die geringsten Zugeständnisse immer wieder erhöhten, bald schon äußerste Knappheit herrschte. Meine Liebe erlaubte mir im Übrigen nicht, mit meinem Geld zu haushalten. Selbstvergessen weilte ich vom Morgen bis zum Abend bei Manon, und die Zeit wurde mir nicht mehr nach Stunden bemessen, sondern nach ganzen Tageslängen. Als mein Beutel schließlich ganz und gar leer war, sah ich mich den Schikanen und der Brutalität von sechs Elenden ausgesetzt, die mich mit unerträglicher Anmaßung behandelten. Dessen sind Sie ja in Pacy Zeuge geworden. Die Begegnung mit Ihnen war ein glücklicher Augenblick der Linderung, den das Schicksal mir gewährte. Ihr Mitgefühl angesichts meiner Qualen war mein einziger Fürsprecher bei Ihrem großzügigen Herzen. Die Unterstützung, die Sie mir freigebig gewährten, half mir, bis nach Le Havre zu kommen, und die Begleitwachen hielten sich getreulicher an ihre Versprechen, als ich gehofft hatte.
Wir kamen in Le Havre an. Als Erstes ging ich zur Post. Tiberge hatte noch nicht die Zeit gehabt, mir zu antworten. Ich erkundigte mich eingehend, an welchem Tag ich seinen Brief erwarten könne. Er konnte erst zwei Tage später eintreffen, und durch eine groteske Fügung meines bösen Geschicks traf es sich, dass unser Schiff am Morgen des Tages abfahren sollte, an dem ich die reguläre Post erwarten konnte. Ich kann Ihnen gar nicht schildern, wie verzweifelt ich war. «Was?», rief ich, «sogar im Unglück soll ich mich stets durch ein Übermaß auszeichnen?»
Manon gab zur Antwort: «Ach! Lohnt ein so unglückliches Leben die Mühen, die wir
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