Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
uns dafür geben? Lass uns in Le Havre sterben, mein lieber Chevalier. Dass doch der Tod unser Elend jählings ende! Sollen wir es mitschleppen in ein unbekanntes Land, wo uns unweigerlich schlimmste Zustände erwarten, ist es mir doch als Strafe zugedacht? Lass uns sterben», wiederholte sie, «oder gib mir den Tod und suche dir ein anderes Los in den Armen einer glücklicheren Geliebten.»
«Nein, nein», rief ich, «es ist mir ein beneidenswertes Los, mit Ihnen unglücklich zu sein.»
Ihre Worte ließen mich erzittern. Ich meinte, sie werde an ihren Qualen zerbrechen. Ich zwang mich, größere Gelassenheit an den Tag zu legen, um ihr die unheilvollen Gedanken an Tod und Verzweiflung zu nehmen. Ich beschloss, dieses Verhalten auch künftig beizubehalten, und ich habe in der Folge erleben können, dass nichts geeigneter ist, einer Frau Mut einzuflößen, als die Unerschrockenheit eines Mannes, den sie liebt.
Da ich die Hoffnung aufgegeben hatte, von Tiberge Hilfe zu erhalten, verkaufte ich mein Pferd. Die Summe, die ich dafür bekam, belief sich zusammen mit dem, was mir von Ihren großzügigen Zuwendungen geblieben war, auf siebzehn Pistolen. Sieben davon gab ich für ein paar Dinge aus, die Manon Linderung verschaffen sollten, und die restlichen zehn verstaute ich sorgsam, denn sie würden den Grundstock unseres Vermögens und unserer Aussichten in Amerika bilden. An Bord des Schiffes gelassen zu werden, bereitete mir keine Schwierigkeiten. Man suchte damals junge Leute, die bereit waren, freiwillig in die Kolonien zu gehen. Überfahrt und Kost wurden mir gratis gewährt. Da die Post nach Paris am folgenden Tag abgehen sollte, gab ich einen Brief an Tiberge auf. Der Brief war zweifelsohne bewegend und dazu angetan, ihn zutiefst zu rühren, denn er fasste daraufhin einen Entschluss, der nur einem unerschöpflichen Vorrat an Zuneigung und Großzügigkeit einem unglücklichen Freund gegenüber entspringen konnte.
Wir setzten Segel. Der Wind war uns stets günstig. Es gelang mir, vom Kapitän einen abgesonderten Verschlag für Manon und mich zu bekommen. Er besaß die Güte, uns mit anderen Augen zu betrachten als das Gros unserer elenden Schicksalsgefährten. Ich hatte ihn schon am ersten Tag um ein vertrauliches Wort gebeten, und um in ihm eine gewisse Wertschätzung für mich zu erwecken, hatte ich ihm manches von meinem Missgeschick offenbart. Ich glaubte nicht, mich einer unehrenhaften Lüge schuldig zu machen, als ich ihm sagte, ich sei mit Manon verheiratet. Er zeigte sich gutgläubig und ließ mir seinen besonderen Schutz angedeihen. Während der ganzen Überfahrt gab es dafür immer wieder Anzeichen. Er sorgte dafür, dass wir annehmbar verköstigt wurden, und die Aufmerksamkeit, die er uns zuteilwerden ließ, hatte zur Folge, dass unsere Leidensgefährten uns mit Achtung begegneten. Ich schaute unablässig darauf, dass Manon auch nicht die kleinste Unzuträglichkeit zu erleiden hatte. Sie bemerkte das sehr wohl, und da sie zugleich lebhaft mitempfand, in welch absonderliche Misslichkeit ich mich um ihretwillen begeben hatte, wurde sie so zärtlich und leidenschaftlich, so zuvorkommend selbst für die geringsten Bedürfnisse meinerseits, dass es zwischen ihr und mir ein ständiges Wetteifern in Aufmerksamkeit und Liebe gab. Ich trauerte Europa nicht nach. Im Gegenteil, je näher wir Amerika kamen, desto mehr fühlte ich, wie mein Herz sich weitete und zur Ruhe kam. Wäre ich sicher gewesen, dass es uns dort am Lebensnotwendigsten nicht fehlen würde, hätte ich dem Schicksal gedankt, dass es unserem Unglück eine so günstige Wendung gegeben hatte.
Nach zwei Monaten Überfahrt gingen wir endlich am ersehnten Gestade von Bord. Das Land bot uns auf den ersten Blick nichts Erfreuliches. Es war ein unfruchtbarer und unbewohnter Landstrich, und man sah kaum etwas Schilfrohr und vom Wind zerzauste Bäume. Keine Spur von Mensch und Tier. Doch da der Kapitän einige der Kanonen unserer Artillerie hatte abfeuern lassen, dauerte es nicht lange und wir bemerkten eine Gruppe von Bürgern aus Nouvel Orléans 26 , die sich uns mit lebhaften Zeichen der Freude näherten. Die Stadt hatten wir noch gar nicht entdeckt, denn von dieser Stelle aus bleibt sie hinter einem kleinen Hügel verborgen. Wir wurden empfangen wie Abgesandte des Himmels.
Diese armen Einwohner bestürmten uns mit tausend Fragen zur Lage in Frankreich und zu den verschiedenen Provinzen, aus denen sie stammten. Sie umarmten uns wie Brüder und wie
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