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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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können direkt zur Polizei gehen. Wir wissen, wo er wohnt.«
    »Nein.«
    »Bitte, Lynnie. Du kannst ihn identifizieren. Es ist nur recht und billig, dass er für seine Untaten bezahlt.«
    »Ich will nicht zur Polizei.«
    »Aber warum nicht?«
    »Weil …«
    »Weil was?«
    »Kannst du mir helfen, ein Wort auszusprechen?«, fragte Lynnie.
    Kate drehte den Kopf zu ihr. »Natürlich. Du fängst an, ich sage es zu Ende.«
    »Er ist er… erbä… erbärmlich.«
    Kate lächelte. »Du brauchst meine Hilfe nicht.«
    »Und weißt du was, Kate? Ich bin es nicht.«
    »Stimmt«, bestätigte Kate. »Das bist du nicht.«
    Lynnie überlegte, ob sie sich noch einmal umdrehenund einen letzten Blick auf Smokes werfen sollte. Aber es fühlte sich so gut an, nach vorn zu schauen.
    Um drei Uhr nahm Lynnie in dem großen Raum Platz, in dem die Anhörung stattfand, und ein Mann in der vordersten Reihe stand auf. »Unser heutiges Thema ist die bevorstehende Schließung der restlichen großen Wohneinrichtungen für Behinderte im Staat. Wir bitten um Argumente und Wortbeiträge.«
    Lynnies Freunde gingen, einer nach dem anderen, zu einem Stuhl ganz vorn und trugen ihre Fälle vor. Lynnie war kaum imstande zuzuhören. Sie rollte unaufhörlich die Zeichnungen in ihren Händen.
    Schließlich wurde sie aufgerufen: »Lynnie Goldberg.«
    Sie stand auf, bedachte Kate mit einem Lächeln, ging nach vorn und setzte sich auf den großen Holzstuhl.
    »Ich bin Lynnie Goldberg«, begann sie. »Ich habe von 1957 bis 1980 in der Pennsylvania School gelebt. Ich möchte Ihnen meine Geschichte erzählen, und ich habe etwas mitgebracht, was mir dabei hilft.« Sie rollte die Zeichnungen auf und hielt die erste hoch. »So sah die Schule aus, als mich meine Eltern dort ablieferten. Ich war verängstigt. Ich wusste nicht, was mit mir geschieht. Schlimme Dinge sind in der Schule vorgefallen, und ich kann Ihnen nicht von allen erzählen. Aber einiges möchte ich doch vortragen.«
    Sie zeigte ihre Bilder. Das Zusammentreffen mit Tonette. Sie selbst, während sie den Boden im Gemeinschaftsraum bohnerte. Wie sie von aggressiven Insassen herumgestoßen wurde. Beim Essen von Brei. Beim Zusammenlegen der Wäsche. Die widerlichen Pfützen im Waschraum. Wie sie ihre Zeichnungen im Aktenschrank versteckte. Ein Bild drückte sogar ihre Angst vor dem Wärter mit den Hunden aus.
    Buddy oder … Julia erwähnte sie mit keinem Wort. Sie verschwieg auch, dass sie immer noch nachts am Fenster saß und sich vorstellte, dass ihr Mann und ihr Kind irgendwo da draußen unter dem Sternbild der Tasse mit dem Henkel oder der Feder waren. Die Juristen hörten ihr mit ernsten Mienen zu, eine Frau bekam sogar feuchte Augen, und ein Mann presste die Faust an den Mund.
    »Das alles sind Gründe, all diese Einrichtungen zu schließen«, endete Lynnie.
    Sie erhob sich und hörte den Applaus der anderen. Sie lächelte erleichtert, weil sie den Mund aufgebracht hatte, um für sich selbst und viele andere zu sprechen.
    »Ich hab’s geschafft, Kate!«, rief Lynnie, als sie in der Rotunda aus dem Fahrstuhl traten. Sie packte Kates Hand und lief weiter.
    »Das hast du.« Kate ließ sich von ihr durch die Halle ziehen. »Du hast in der Öffentlichkeit gesprochen, Lynnie. Und du hast deine Sache unglaublich gut gemacht! Ich bin richtig froh, dass du mich gebeten hast, an der Anhörung teilzunehmen.«
    Lynnie schlängelte sich an den Menschen vorbei, die in der Rotunda flanierten, bis sie die Mitte der Halle erreicht hatten. »Das war ein ereignisreicher Tag«, sagte Kate.
    »Einer der besten Tage überhaupt«, erwiderte Lynnie lauter – ihre Stimme flog höher.
    Dann legte sie den Kopf in den Nacken, betrachtete die Kuppel, die sich weit über ihrem Kopf wölbte, und flüsterte das Wort, an das sie seit Stunden dachte und das sie für die Anhörung stark gemacht hatte: »Julia.« Das Wort bekam Flügel, als es ihren Mund verließ und in die Lüfte stieg. Es kreiste höher und höher, bis es durch das Glas verschwand. Bestimmt schwebte es bald unbemerkt über den Staat, über die ganze Welt, und es würde sie finden.
Staub
1995
    »Nach dieser Karte«, sagte Sam, »müsste hier irgendwo die Schule sein.«
    Homan hatte die hohen Mauern schon gesehen. Er brauchte sich nicht zu Jean zu drehen, die neben ihm auf dem Rücksitz saß und alles, was Sam sagte, in Gebärdensprache übersetzte. Die veränderte Szenerie – die unendlich vielen neu erbauten Häuser – brachte ihn genauso wenig aus der Fassung wie

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