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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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verschwommene Gestalt, sondern klar und süß, als es zu ihm ins Bett schlüpfte. Er drehte sich zu ihr, und da lag sie und betrachtete ihn im Mondlicht. Sie berührte ihn nicht, ihr Gesichtsausdruck war unergründlich, und obwohl er nichts lieber getan hätte, als seine Finger auf ihre warme Haut zu legen, hielt er sich zurück. Sie war ein Traum, nur ein Traum. Stattdessen fragte er sie mit Gesten, was sie all die Jahre getan hatte. Sie deutete auf die Wand, an der plötzlich ein Bild neben dem anderen hing. Er richtete den Blick auf die Zeichnungen, doch ehe er etwas erkennen konnte, verblassten sie vor seinen Augen, bis die Blätter ganz weiß waren. Und das schöne Mädchen war weg.
    Am nächsten Tag machte er King und Queen klar, dass er Urlaub haben wollte. In der nächsten Woche erledigte er alle Arbeiten, so dass sie einige Zeit ohne seine Hilfe auskommen konnten. Und kurz vor seiner Abreise schlitzte er den schwarzen Stoff unter seinem gelben Sessel auf, nahm das Geld aus dem Versteck und deponierte es endlich auf der Bank.
    Sie fuhren mit Sams Van. Er wechselte sich mit Sam am Steuer ab, während Jean übersetzte.
    Und nun standen sie hier vor dem offenen großen Tor.
    Lasst uns hineingehen , signalisierte er.
    Es war der Geruch, der Homan aufrüttelte, als der Van das Tor passierte – nicht der Gestank in den Gebäuden, sondern die Landluft von Pennsylvania. Er ließ das Fenster ganz herunter und atmete tief durch. Der Duft war noch genauso wie damals, wenn man sich nicht in die Nähe der Cottages wagte: Gras und Erde.
    Das schöne Mädchen hatte diesen Geruch geliebt, obwohl sie nie so frei war, bis zur Zufahrt vorzudringen. Er hingegen war oft hier gewesen, wenn er im Wachhaus etwas reparieren musste, und hatte die Gelegenheiten genutzt, um seine Lunge mit sauberer Luft zu füllen. Das Wachhaus gab es nicht mehr, und das Gras war um etliche Zentimeter höher, als es seinerzeit erlaubt gewesen war. Ahnten die Menschen, die heute durch dieses Tor fuhren, was dies früher für ein Ort gewesen war?
    Das erste Gebäude kam in Sicht, als sie die Zufahrt entlangrollten – ein neues fünfstöckiges Hospital. Ein roter Ziegelbau mit getönten Fensterscheiben. Nirgendwo auch nur ein einziger Gitterstab. Vor dem Eingang standen Masten mit flatternden Fahnen.
    Homan überlegte, welches Haus früher an dieser Stelle gestanden hatte. Er erinnerte sich nicht mehr, weil die Straßen und Wege auf dem Gelände jetzt ganz anders angelegt waren.
    Er schaute an Jean vorbei aus dem Fenster. Dort war das Verwaltungsgebäude mit dem Turm. Es war noch das alte, aber es sah ordentlicher aus denn je – frisch gestrichen, Marmorstufen ohne Risse, ein blank poliertes Geländer.
    Sam hielt an, und Homan stieg aus.
    Er betrachtete den Turm. Die Steine waren noch so grau, wie er sie in Erinnerung hatte. Ihm fiel ein, wie er das erste Mal hier gestanden hatte. Wie wütend und verängstigt er gewesen war, mit Handschellen gefesselt und ohne einen blassen Schimmer, wo er sich befand. Er war in eine Stadt – wie er heute wusste, nach Well’s Bottom – gekommen und auf der Suche nach einem Schlafplatz.
    Er dachte an diese Nacht zurück. Damals war er von einem Zug gesprungen und hielt nach Nahrung und einem Plätzchen für die Nacht Ausschau. In einer derNebenstraßen fand er ein Jackett, das jemand in einem Hof hatte liegen lassen, dann klaute er einen Laib Brot am Hintereingang einer Bäckerei. Satt und zufrieden rollte er sich in einer Gasse hinter einer Bar zusammen und schlief. Das war alles.
    Als die Sonne aufging, sah er eine Mülltonne mit umgedrehtem Deckel direkt vor sich. Wasser hatte sich in der Vertiefung des Deckels gesammelt. Er stand auf, und als er in den Deckel schaute, sah er sein Spiegelbild. Er war schmutzig und sein jugendlicher Bart zerzauster, als er sich angefühlt hatte. Mit einer Rasierklinge und ein bisschen Seife könnte er jedoch ganz gut und einigermaßen respektabel aussehen. Vielleicht sogar wie jemand, der in einen Bahnhof gehen konnte und behandelt wurde wie ein ganz normaler Mensch.
    O muh . Er probierte, seinen Namen laut zu sagen – seit vielen Jahren war dies der erste Versuch, die Stimme einzusetzen. Er spürte Vibrationen in der Kehle, doch er wusste nicht, wie die Stimme klang. Er legte die Hand an die Lippen, um die Luft, die aus seinem Mund kam, zu fühlen. O muh . Er lächelte. Er war kein Nichtsnutz. Konnte er nicht Auto fahren? Hatte er nicht in der Fremde überlebt?
    Muh nuh O muh.

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