Die Geschichte eines schoenen Mädchens
seine eigene innere Wandlung, die er vollzogen hatte, seit er die amerikanische Gebärdensprache gelernt und Freundschaften mit den Leuten geschlossen hatte, die wie Sam im Independent Living Center arbeiteten. Er hatte in den letzten Jahren unendlich viel gelernt. Wie man in diesen ungleichen Vogelspuren Buchstaben erkannte, sie zu Worten zusammenfügte und die Worte zu Sätzen. Das Kartenlesen, den Umgang mit Geld, die Regeln im Straßenverkehr. Trotzdem hatte er diese Mauern auf Anhieb erkannt.
Und da war das Tor, groß und schwarz, mit den scharfen Spitzen, die wie Speere nach oben ragten. Dahinter auf dem Hügel stand der Turm – statt des Ziffernblatts der Uhr standen jetzt dort die Worte: »Veterans Medical Center«. Sam, dessen wirklicher Name Terence lautete, wie Homan mittlerweile wusste – auch wenn er für ihn immer Sam bleiben würde –, fuhr den Van an den Straßenrandund blieb stehen. Andere Fahrzeuge, Lastwagen und SU Vs rasten vorbei und blockierten immer wieder die Sicht, aber das, was er sah, genügte, um in Homan tiefe Abscheu und Sehnsucht zugleich zu wecken.
Er hatte damit gerechnet, dass so etwas geschehen würde. Kurz nachdem er die Tür zur Kommunikation aufgestoßen hatte, verlor er das Interesse an den Prickel-Zigaretten, und während er lernte und las, wuchs in ihm das Entsetzen darüber, dass er in der Schule keinerlei Chancen bekommen hatte. Er freute sich, einen guten Deal mit King und Queen ausgehandelt zu haben (anständiges Gehalt, zusätzlich zu der Verpflegung, und die Unterkunft, die er in ihrem buddhistischen Zentrum ohnehin schon hatte), und während er weiterhin für sie arbeitete, wuchs sein Vertrauen auf seine Talente (er richtete sich eine kleine Werkstatt ein, in der er Betten, Vans und Rollstühle für seine neuen Freunde modifizierte) und setzte sich schließlich hohe Ziele (er hatte gerade ein Anmeldeformular für ein Maschinenbauseminar bekommen, das er nur noch ausfüllen musste). Trotz allem wünschte er sich nach wie vor, den großen Bossen von der Schule, die ihn von oben herab behandelt hatten, und den Wärtern, die übers Gelände stolziert waren wie eitle Pfauen, eine ordentliche Abreibung verpassen zu können. Zur gleichen Zeit fragte er sich, was aus der Schule geworden war – und aus dem schönen Mädchen und der Kleinen. Es brauchte viel Nachforschungsarbeit, um die erste Frage zu beantworten. Die andere blieb offen. Natürlich – er kannte ja nicht einmal den Namen des schönen Mädchens.
Was ist mit dir?, fragte Sam eines Tages, und Jean, eine Hörende, die die Gebärdensprache fließend beherrschte, übersetzte. Jean war das Mädchen im gelben Kleid, doch jetzt trug sie Röcke und Blazer, und sie war mit Sam verheiratet.
Was meinst du damit?
Es muss irgendwo eine Akte über dich geben. Vielleicht enthält sie Informationen über den Rotschopf oder irgendjemanden, der den Namen des schönen Mädchens kennt.
Sie wussten nicht, wer ich bin.
Wie haben Sie dich genannt?
Woher soll ich das wissen?
Lange Zeit war Homan hin- und hergerissen; einerseits wollte er mehr über sie erfahren, andererseits wusste er, dass das zu nichts führen würde. Siebenundzwanzig Jahre waren vergangen. Das schöne Mädchen könnte schon gestorben sein, und wenn nicht … hatte er überhaupt noch das Recht, an sie zu denken? Oder an die Kleine? Die beiden führten ein eigenes Leben, hatten Freunde und Jobs und vielleicht sogar Familien. Ihn hatten sie längst vergessen.
Es ist reine Neugier , hatte ihm ein Freund klargemacht. So was empfinden wir alle, wenn es um die erste große Liebe geht. Ein anderer meinte: Das sind Schuldgefühle .
Wir haben eine andere Theorie , signalisierte ihm Jean am Abend vor ihrer Hochzeit mit Sam. Du denkst ständig an sie, weil du sie noch lie…
Homan ließ sie stehen, ehe sie den Satz beenden konnte.
Vor einem Monat dann kam die Einladung von Sam und Jean. Sie hatten beide Termine für Bewerbungsgespräche in Washington, D. C., und wollten das Land mit dem Auto durchqueren. Sie boten Homan an, sie zu begleiten.
Ich habe einen Job.
Gibt es nicht irgendwelche Orte, die du dir ansehen willst?
Nein.
Denk nur an unseren Trip von damals – ohne dich ist eine Fahrt übers Land bestimmt langweilig.
Verstehst du das Wort Nein nicht?
Doch als er an diesem Abend in sein kleines Haus ging und sich auf seine Schlafmatte legte, kam das schöne Mädchen zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder zu ihm. Dieses Mal war das Traumwesen keine
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