Die Geschichte eines schoenen Mädchens
dass das geschehen würde – »irgendwann«. Dieses Wort hatte sie schon früh gelernt, als sie mit Hannah ihre eigene Version von Verstecken spielte, bei der sie sich beide vor Mommy und Daddy und vor der Schwester versteckten. Sie testeten, wie lange sie es aushielten, bis sie sich zu sehr vermissten… Dann suchten sie sich gegenseitig, und wenn sie sich fanden, schrie Hannah: »Sicher!« Das Spiel endete »irgendwann«.
Nun, da der Sarg hinausgetragen wurde und die kleine Gemeinde ihm folgte, begriff Lynnie, dass es für sie und Buddy vielleicht kein »Irgendwann« gab. Man brauchte sich nur Doreen anzusehen. Wenn es einen Gott gäbe,hätte er dafür gesorgt, dass ihre Eltern zu ihr gekommen wären – irgendwann. Aber das »Nie« hatte gesiegt.
In den nächsten Monaten fragte sich Lynnie jeden Morgen, wenn sie sich anzog, ob sie die Kette mit der roten Feder über den Kopf ziehen sollte. Sie hatte das Amulett jeden Tag getragen, seit sie es von Hannah geschenkt bekommen hatte, und wenn sie die Kette umlegte und die Feder auf ihrer Brust lag, hatte sie das Gefühl, dass Buddy die Hand auf diese Stelle legte und die Vibrationen spürte, wenn sie sprach. Und im Laufe des Tages dachte sie jedes Mal, sobald sie sich bewusst wurde, dass sich das Amulett mit ihren Atemzügen hob und senkte, daran, dass Julia irgendwo unter dem weiten Himmelszelt auch atmete. Im Büro von BridgeWays gaben sich die Kolleginnen gegenseitig den Rat, möglichst rasch »darüber hinwegzukommen«, wenn ein Freund die Liebesbeziehung abbrach. Und im Fernsehen sagten die Leute in solchen Fällen »Das Leben geht weiter« oder »Finde dich damit ab – das ist Geschichte«.
Doreen hatte recht gehabt: Buddy würde nie zu ihr zurückkommen. Nach zweiunddreißig Jahren der Hoffnung war es höchste Zeit, sich damit abzufinden.
Eines Abends öffnete Lynnie ihren Schrank, hob ihre zusätzliche Decke hoch und holte die geschnitzte Holzkiste hervor, die ihr Eva und Don Hansberry vor Jahren gegeben hatten. Sie hatte den Inhalt noch am selben Abend mit Kate durchgesehen und geseufzt, als sie die Fotos von Julia, ihrer wunderschönen Tochter, betrachtet hatte. Kate fragte, ob sie auch die Briefe lesen wollte, die die alte Lady geschrieben und mit einem gelben Band gebündelt hatte. In den folgenden zwei Tagen saßen sie im Hotelzimmer und lasen. Sie erfuhren, was Julia und Martha erlebt hatten. Die wunderbare Martha, die eineMutter für Julia gewesen war, wie es sich Lynnie gewünscht hatte. Den letzten Brief in dem Bündel hatte der Mann geschrieben, den Martha geheiratet hatte – Pete. Er schrieb, dass Martha im Schlaf gestorben war, als Julia vierzehn Jahre alt war, dass er beide von Herzen liebte – Martha und Julia – und versprochen hatte, Julia in Marthas Sinne zu erziehen. Ein guter Mann – genau wie Buddy. Kate band die Briefe wieder zusammen, und Lynnie legte sie zusammen mit all den anderen Dingen zurück in die Schatulle, die sie mit in ihre Wohngruppe nahm und im Schrank aufbewahrte.
In dieser Schatulle war die Kette mit dem Amulett gut aufgehoben.
Der Winter verging. Die Frühlingsknospen öffneten sich. Der Sommer kam mit seinem heißen Atem, der das Gras braun verfärbte. Und eines Morgens, als der Wind begann, die Blätter von den Bäumen zu schütteln, wachte Lynnie mit einem neuen Gedanken auf. Hannah, deren Besuch sie für heute erwartete, hatte sich ein Baby gewünscht, aber sie und ihr Mann John konnten keine Kinder kriegen. Lynnie wusste, dass Hannah deswegen unglücklich war, denn sie wandte den Blick ab, wann immer sie einer schwangeren Frau begegnete. Dennoch rief sie Lynnie an und erzählte ihr begeistert von ihren Ausstellungen in der Galerie und freute sich, wenn sie Erfolg hatte. Und dann war da noch Kate. Sie hatte alles daran gesetzt, ihre erste Ehe aufrechtzuerhalten, doch ihr Mann hatte ihre Pläne durchkreuzt. Später lernte Kate Scott kennen, und als sie ihn heiratete, sagte sie: »Scott ist all das Schreckliche wert, das ich durchgemacht habe, bevor ich ihn fand.« Und Doreen: Obwohl sie nie Eltern hatte, war sie die beste Freundin der Welt.
Lynnie verstand eines: Es gab zwei Arten von Hoffnungen– die eine, für deren Erfüllung man nichts tun konnte, und die andere, die man durch eigenes Zutun wahr machen konnte. Und selbst wenn die zweite Art nichts mit dem ursprünglichen Wunsch zu tun hatte, lohnte es sich, dafür zu arbeiten. Ein verregneter Tag ist besser als gar keiner. Ein kleines Glück kann
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