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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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wieder gefunden worden.Marthas Herz raste auf der Fahrt über die Old Creamery Road in Richtung Westen. Es war unmöglich – der Mann konnte nicht ertrunken sein. Sie hatte ihn doch gerade erst kennengelernt. Sie hatte gesehen, mit welcher Zuneigung er das Kind betrachtet hatte – eine so liebevolle Fürsorge konnte alle Unbilden überwinden, die er und Lynnie erdulden mussten, ehe sie die Farm erreicht hatten. Aber seine Kraft konnte gegen die Strömung und das tosende Wasser nichts ausrichten. Sie tastete nach dem Hut, der auf dem Sitz neben ihr lag. Dann hob sie die Hand an die Lippen und blies in den Duft, den sowohl Earl als auch der Mann hinterlassen hatten.
    Zum Glück war der Säugling wieder eingeschlafen. Die Kleine würde vielleicht nie erfahren, was dem Mann zugestoßen war. Trotzdem hatte Nummer Zweiundvierzig diesem Kind auf die Welt geholfen – konnte es eine denkwürdigere Geschichte geben? Möglicherweise würde Martha sie niederschreiben, wenn sie am Abend – wo auch immer – ein wenig Ruhe fand. Vielleicht sollte sie die Seiten in den Hut stecken und dafür sorgen, dass beides dem Kind erhalten blieb.
    Martha drehte das Radio wieder an. Bestimmt käme es in den Nachrichten, wenn eine Leiche im Fluss gefunden worden war. Unter Umständen bewahrten die Behörden aber auch Stillschweigen, bis der Tote identifiziert war, und da er nichts bis auf die Hose ihres Mannes am Leib trug, konnten sie seine Identität womöglich nie feststellen. Dann würde er als Unbekannter, als John Doe bestattet werden.
    Martha warf beim Fahren immer wieder einen Blick auf das Baby. Alles war schiefgegangen. Lynnie befand sich in Gewahrsam. Nummer Zweiundvierzig war ertrunken. Martha fuhr in die entgegengesetzte Richtung von Well’s Bottom. Es war bereits neun Uhr.
    Sie sollte zur Farm zurückkehren.
    Sie hatte einen Keller und ein Gewächshaus. In einem von beiden konnte sie die Kleine verstecken. Sie fuhr ohnehin in diese Richtung, es sei denn, sie entschied sich, die Scheier Pike Route zu nehmen. Aber auch dort musste sie über eine Brücke. Was, wenn auch die gesperrt war?
    Martha war nicht imstande nachzudenken, sie konnte nicht einmal richtig sehen.
    Die Kreuzung war nahe. Sie dachte an Robert Frost, der an eine Weggabelung im Wald kam. Obwohl er gern den anderen benutzt hätte, schlug er den weniger ausgetretenen Pfad ein – und das war entscheidend.
    Martha war weder eine Dichterin, noch war sie auf Abenteuer aus. Sie war nicht einmal eine Mutter, sondern nur jemand, der sein Wort gegeben hatte, ohne die Bitte richtig verstanden zu haben. Zum ersten Mal fragte sie sich, was passieren würde, wenn das Baby gefunden wurde.
    Durfte Martha dieses Risiko eingehen?
    Da war die Kreuzung: zwei kleine Wegweiser. Einer zeigte die Straße nach Hause an, der andere deutete nach Norden zum Scheier Pike und wies eine Route aus, die sie noch nie hatte fahren müssen. Sie sehnte sich nach ihrem Haus, nach allem, was sie kannte, nach den beinahe fensterlosen Mauern, die sie – aber nicht das Baby – schützen konnten. Und jetzt, da sie den Hut betastete, fühlte sie sich mehr denn je verpflichtet, Lynnies Bitte zu erfüllen.
    Sie nahm die Straße nach Norden.
    Das Well’s Bottom von 1968 hatte sich eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu dem Well’s Bottom von 1918 bewahrt, als Martha und Earl von der Kirche, in der sie soeben geheiratet hatten, zur Farm auf dem Land aufbrachen. Es gab Lebensmittelläden, im Theater hing ein großer Kronleuchter, der Unabhängigkeitstag wurde imStadtpark gefeiert, Güterzüge beförderten Kohle und Stahl. Und die Geburtenziffer hielt sich mit der Sterberate fast die Waage. Einige Unterschiede gab es allerdings. 1968 diskutierte man über eine Umgehungsstraße, die Lastwagen aus der Stadt fernhalten würde. Eine chinesische Familie hatte ein Restaurant eröffnet. Ein paar Leute besaßen Farbfernseher. Aber die Unruhen in Detroit, Newark und Los Angeles sowie die Demonstrationen in Washington waren hier lediglich Nachrichten aus der Ferne. Well’s Bottom schrie nicht nach Veränderungen. Wenn überhaupt, dann war es nur ein Flüstern.
    Dennoch glaubte Martha, als sie in die Stadt kam, das Flüstern zu hören. Sie stellte den Wagen auf dem unauffälligsten Platz ab, der ihr einfiel – in einem alten Stall in einer der vielen Gassen, die parallel zur Hauptstraße verliefen. Es war Mittag, und abgesehen von den zwei Pausen, die Martha einlegen musste, um die Flasche zu geben und Windeln zu

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