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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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Augen geschlossen. Martha hielt das Baby an ihrer Brust und fühlte den Herzschlag dicht an ihrem. Auf dieses Klopfen hatte sie Jahrzehnte gewartet; und sie fragte im Stillen: Was für ein Leben erwartet dich? Wirst du bald wieder bei deiner Mutter sein? Oder wirst du niemals erfahren, wer sie ist? Werde ich zudeinem Leben gehören? Oder kann ich ihren Traum für dich erfüllen, wenn ich mich verabschiede? Sie fühlte sich dem Kind ungeheuer nahe, als ihre Herzen im Gleichklang schlugen.
    In der Hoffnung, etwas über die aus der Schule Entflohenen zu hören, schaltete Martha das Autoradio ein. Die Nachrichten liefen, aber die Rede war nur von dem Unwetter und den Straßen, die gesperrt werden mussten. Martha konzentrierte sich auf die Straße. Sie hatte die Kreuzung zu einer alternativen Route über Scheier Pike – eine kurvenreiche zweispurige Landstraße, die zwanzig Meilen vor der nächsten Brücke durch die Berge führte – fast erreicht. Sie blieb auf der Old Creamery Road, dem direkten Weg nach Well’s Bottom.
    Bald lichteten sich die Wälder, die die Straße bis dahin gesäumt hatten, und Martha sah, dass die Wiesen und Obstgärten unter Wasser standen. Der Nachrichtensprecher berichtete von den Sportereignissen des letzten Tages, dann folgten andere Nachrichten und weitere Berichte über das Unwetter. Wieso wurden die beiden Personen, die aus einer staatlichen Einrichtung entkommen waren, nicht erwähnt? Martha machte das Radio aus. Das Camp für Pfadfinder war geschlossen. Es war der letzte Orientierungspunkt vor dem Fluss, und gleich danach führte die Straße stetig bergab. Endlich stieß Martha auf ein anderes Auto. Es bewegte sich langsam vorwärts, und sie entdeckte, dass es sich am Ende einer kleinen Schlange anderer Fahrzeuge befand. Auf dem letzten Stück vor dem Fluss verminderte sich die Geschwindigkeit noch mehr, bis schließlich alle stehen blieben.
    Martha wartete. Der Fahrer vor ihr stieg aus und spähte nach vorn.
    Sie kurbelte ihr Fenster herunter. »Können Sie erkennen, was los ist?«
    »Ich glaube, die Brücke ist überschwemmt.«
    Daran hätte sie denken müssen. Aber die Brücke war noch nie gesperrt gewesen.
    »Verdammt«, sagte sie wieder – diesmal, ohne sich danach den Mund zuzuhalten.
    Sie öffnete die Tür und hoffte, das mit eigenen Augen sehen zu können. Die Leute vor ihr waren bereits zu Fuß unterwegs. Sie stand kurz vor der letzten Kurve vor dem Fluss, also müsste sie nicht allzu weit gehen, aber was, wenn sie auf einen Polizisten stieß? Sie zog die Tür wieder zu und schloss das Fenster. Ihre Uhr zeigte zehn nach acht an.
    Sie beschloss, abzuwarten. Hinter ihr stand bereits ein Lastwagen, also erschien ihr das als vernünftigste Lösung. Doch dann vernahm sie ein Wimmern, und als sie in den Korb schaute, öffnete das Baby den kleinen Mund und fing an zu schreien.
    Die Panik der letzten Nacht kehrte zurück, wenn auch aus anderen Gründen. Was hatte dieses Schreien zu bedeuten? War das Kind hungrig oder brauchte es eine frische Windel? Störte sich die Kleine nur daran, dass der Wagen nicht mehr fuhr? Das Schreien wurde immer lauter. Dann fiel Martha ein, dass sie nicht mehr dieselbe wie gestern war. Sie war erfindungsreicher und wusste, dass sie Neuland betreten konnte.
    Tu wie jede Mutter das, was getan werden muss, sagte sie sich.
    Sie wendete und fuhr zurück.
    Nun war sie voller Zweifel und Angst. Sie hatte nichts, was sie leiten könnte, nur einen schreienden Säugling, einen Koffer und die Straße vor sich.
    Ihre Gedanken rasten, als die Zufahrt zu dem geschlossenen Camp in Sicht kam. Sie könnte dort einbiegen und erst einmal das Baby beruhigen.
    Die Kette, die den Feldweg ins Camp absperrte, lag auf der Erde. Sie ließ den Buick darüberrollen. Seit Jahrenwar sie nicht mehr hier gewesen, aber es hatte sich nichts verändert, und bald kam sie auf den Platz mit den Fichten und hölzernen Schlafkojen. Sie erstreckten sich am Westufer des Flusses mit den Schwimm- und Angelplätzen, und flussabwärts gab es einen niedrigen Damm. Martha hielt auf dem schlammigen Parkplatz. Das Flusswasser, das hoch bis an die Ufer reichte, war braun und reißend.
    Martha nahm das schreiende Baby aus dem Korb. Das kleine Gesicht war rot, das Weinen klang jämmerlich. Wenigstens konnte Martha nun dem Weinen auf den Grund gehen. Die Windel war nicht nass.
    Mit dem Baby auf einem Arm öffnete sie die Hintertür und den Koffer, um ein Milchfläschchen herauszuholen. Sie setzte sich ins

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