Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Auto und nahm das Kind, wie sie es in der letzten Nacht getan hatte, auf den Arm, um ihm die Flasche zu geben, aber es hörte nicht auf zu schreien und duldete nicht einmal den Sauger im Mund. Nach einigen Schrecksekunden tat Martha das Einzige, was ihr in den Sinn kam. Mit dem Baby auf dem Arm und der Flasche in der Hand ging sie los. Die Wirkung zeigte sich prompt. Sobald sie die ersten Kojen passierten, war das Baby ruhig, und nach nur wenigen Sekunden saugte es an der Flasche.
Martha entschied, erst zum Wagen zurückzukehren, wenn das Baby satt war. Außerdem fühlte sie sich besser unter freiem Himmel, auch wenn er von den Baumwipfeln verdeckt war. Die frische Luft tat gut. Der Geruch von Holz und Fichten sowie die Sauggeräusche besänftigten Marthas Pulsschlag. Sie kam zum Badesteg, der normalerweise vom höheren Ufer über den Fluss ragte. Heute reichte der Wasserspiegel fast bis zu den Planken. Martha genoss diese Erholungspause in all der Aufregung und ging weiter, um einen Blick auf das tosende Wasser unter dem Steg zu werfen. Das Baby schluckte und gab zufriedeneLaute von sich. Etwas stach Martha in die Augen: Auf dem letzten Pfosten des Stegs lag etwas. Sie testete die Planken mit den Füßen und wagte sich dann auf das Wasser hinaus. Nach ein paar Metern erkannte sie, dass ein Hut an dem Pfosten hing – ein Hut, wie Earl ihn getragen hatte.
Wie jener, den sie Nummer Zweiundvierzig überlassen hatte.
Martha blieb stehen. Der braune Wollstoff. Das Mottenloch.
Sie warf einen Blick zurück. Die Schlafplätze waren menschenleer. Fast hätte sie nach dem Mann gerufen, aber dann erinnerte sie sich, dass er taub war.
Sie ging bis zum Ende des Stegs, nahm mit der freien Hand den Hut an sich und hielt ihn an die Nase. Er roch nach Earl. Als sie die Augen schloss, fühlte sie ihn regelrecht neben sich im Bett, verspürte den Wunsch, die Hand auf seine Brust zu legen und ihm mit so viel Liebe in die Augen zu schauen, dass er sie durch den Nebel der Trauer wahrnahm. Dann würde er ihr Gesicht berühren und dem Universum das Chaos und ihr das kranke Kind vergeben.
Sie schlug die Augen auf. Wo war der Mann?
Vielleicht schlief er in einer der Uferbuchten, oder er war auf einen Baum geklettert, um dem Hochwasser zu entgehen. Sie überblickte den Fluss. Das wirbelnde Wasser hatte die Farbe von Erde. Sie sah nichts außer noch mehr Wasser, das die Ufer weiter flussabwärts nicht mehr eindämmen konnten, an den Netzen, die die Badeplätze des Camps eingrenzten, zerrte und über den Damm hinwegspülte. Das Tosen war ohrenbetäubend. Bestimmt blieb die Old Creamery Road Bridge den ganzen Tag über geschlossen. Von hier aus würde niemand über den Fluss kommen.
Martha drehte sich um, um in die andere Richtung zu schauen. Flussaufwärts sah es genauso aus. Ein großer Astlag im Wasser und raste auf sie zu. Die Strömung war so stark, dass der Ast innerhalb von Sekunden am Steg vorbeischwamm und noch mehr an Geschwindigkeit aufnahm. Er wird sich im Netz verfangen , dachte Martha. Aber er blieb nicht hängen, und erst dann merkte sie, dass das Netz zerfetzt war. Sie beobachtete, wie der Ast über den Damm geschleudert wurde. Sie berührte den Hut und hielt an beiden Ufern nach Spuren des Mannes Ausschau. Das Baby hatte die Flasche noch nicht ausgetrunken. Und sie steckte ihm den Sauger wieder in den Mund, während sie den Steg verließ und weiter am Westufer entlangging. Sie entdeckte nichts, abgesehen von Abfall, der im Fluss, am Badeplatz, dem zerrissenes Netz und an dem Schild Ab hier Boot fahren verboten vorbei im Fluss trieb. Sie ging bis zum Damm. Wie sie erwartet hatte, wurden der Ast und der Abfall in dem Strudel dahinter immer wieder in die Tiefe gerissen und an die Oberfläche katapultiert – gefangen in dem rotierenden Wasserstrom. Dann fiel ihr etwas auf. Ein dunkler Stoff wurde nach oben gespült. Earls Jackett, das sie dem Mann geschenkt hatte. Es ging unter, und das Hemd tauchte auf.
Ihr wurde kalt. Nummer Zweiundvierzig musste im Unwetter zu dem Steg gelangt sein, er wollte den Fluss durchschwimmen, um zu Lynnie zu kommen. Bestimmt hatte er den Hut abgenommen und auf den Steg gelegt. Dann war er im Dunkel der Nacht ins Wasser getaucht. Die Strömung riss ihn flussabwärts und über den Damm. Der Strudel musste ihm die Kleider vom Leib gezerrt haben.
Das Netz war seinerzeit gespannt worden, weil Kanufahrer in den Stromschnellen, die es auch bei Niedrigwasser gab, verschwunden waren. Sie waren nie
Weitere Kostenlose Bücher