Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Bottom war eine Telefonzelle – an der Old Creamery Road gleich nach der zweispurigen Brücke über den Fluss. In einer halben Stunde von dort aus anzurufen wäre passender, als sich um diese frühe Zeit bei Eva anzukündigen. Sie schlug das Adressbuch auf und nahm einen Stift zur Hand.
In dem Moment klingelte ihr Telefon.
Es klingelte nie – nur am 24. Dezember, wenn ihre Schüler anriefen, um sich zu vergewissern, ob Martha am nächsten Tag Besuch empfangen würde. Jedes Mal, wenn der erste Anruf kam, zuckte sie zusammen und sprang aus ihrem Sessel. Jetzt fuhr ihr ein noch größerer Schreck in die Glieder. Die Wächter aus der Anstalt und die Polizei waren bestimmt schon auf dem Weg hierher, um nach Nummer Zweiundvierzig zu suchen.
Oder – sie hatten von dem Säugling erfahren.
Was ihr vor Sekunden noch wie eine hastige Entscheidung vorgekommen war, erschien ihr nun als absurd langsamer Prozess. Warum war sie nicht schon in der Nacht aufgebrochen? Wieso hatte sie Zeit mit Packen verschwendet?
Wie schnell konnte sie mit dem Baby verschwinden?
Sie warf das Adressbuch in den Koffer und machte ihn zu.
Das Baby schlief noch. Martha hob vorsichtig den Korb hoch und brachte ihn über die Leiter hinunter. Das Kindrührte sich nicht. Das Telefon klingelte zum fünften Mal, als Martha mit dem Korb fest an sich gedrückt in ihr Arbeitszimmer kam.
Das siebte Klingeln.
Sie hielt den Korb in einem Arm und nahm mit der anderen Hand den Koffer. Dann fiel ihr ihre Schreibtischunterlage ins Auge. Diese Karte war ihr kostbarster Besitz, fast wie ein Familienporträt; ihre Schüler waren auf neununddreißig Staaten verstreut, und jeder ihrer Wohnorte war mit einem Punkt gekennzeichnet. Sie nahm die Karte und hastete die Treppe hinunter.
Nach dem zwölften Klingeln verstummte das Telefon.
Martha holte die Milchfläschchen aus dem Kühlschrank und eine Jacke vom Garderobenhaken. Als sie in ihren Buick stieg, hörte sie erneut das Telefon im Haus, sie stellte den Korb in den Fußraum vor dem Beifahrersitz, warf den Koffer und die Karte auf die Rückbank, dann startete sie den Motor und fuhr los.
Doch die Zufahrt zur Straße war überschwemmt und matschig.
»Verdammt.« Sofort schlug sie die Hand vor den Mund. Es war der schlimmste Fluch, den sie kannte, und sie hatte ihn noch nie laut ausgesprochen. Doch sie fühlte sich, nachdem das Wort über ihre Lippen gekommen war, gar nicht so gemein und unanständig, wie sie es erwartet hätte. Sie legte die Hände ans Steuerrad und lenkte den Wagen auf die Wiese. Schlamm spritzte von den Reifen auf, als sie bergab raste. Es war aufregend, über unbefestigten Boden zu fahren. Noch aufregender war allerdings das Geräusch, das sie hörte, als sie zu der Waldschneise fast am Fuß des Hügels kam. Das letzte Klingeln des zweiten Versuchs, sie telefonisch zu erreichen. Dann herrschte Stille.
Sie bog auf die Old Creamery Road ein.
Zur Rechten stand der Leuchtturmmann und warteteauf den Postboten. Würde sie ihren Schülern an Weihnachten von diesem Abenteuer erzählen? Oder ihnen in ein paar Tagen in Briefen davon berichten? Das Baby seufzte; Martha konnte nicht an die Zukunft denken. Sie steuerte ihren Buick um vom Sturm abgerissene Äste herum und fuhr in Richtung Osten.
Nach ein paar Meilen beruhigte sich das Kind. Marthas Aufregung hingegen legte sich nicht, obschon sie keiner Menschenseele begegnet war. Sie war auf dem Weg zu einer ehemaligen Schülerin, von der sie Hilfe erhoffte, obwohl sie immer davon Abstand genommen hatte, ihre Schützlinge um etwas zu bitten. Es gab ein Naturgesetz in diesem Universum: Eltern sorgten für ihre Kinder, Frauen fügten sich ihren Männern, Lehrer leiteten Schüler an. Dennoch hatte ihr eine Mutter ihr Neugeborenes anvertraut. Martha hatte bereits getan, was ihrem Mann nie und nimmer in den Sinn gekommen wäre. War es ein ernsthaftes Vergehen, wenn sie sich in dieser Not an eine Schülerin wendete?
Über eines war sie sich im Klaren: Die letzte Nacht hatte sie verändert. Sie war auf den Dachboden geklettert, hatte neben dem Baby gesessen und gedacht: Ich bin alles, was du jetzt hast . Und sie spürte, wie sich ihr Herz öffnete, obschon sie gar nicht wusste, dass es verschlossen gewesen war. Sie streckte die Hand in den Korb mit der Flickwäsche, und als ihre Fingerspitzen die Haut des Säuglings berührten, wurde ihr bewusst, dass sie ihren Sohn nie berührt hatte. Sie hob das kleine Mädchen behutsam hoch. Es war federleicht und hatte die
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