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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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packte den Mantel und tastete ihn an den Seiten ab. Homan fühlte, wie der Futterstoff riss, und der Mann zerrte noch mehr daran, bis er ein kleines Päckchen in den Händen hielt.
    Homan ging ein Licht auf: Der Mantel war wie ein Umschlag. Der Mann wollte, was in diesem Umschlag steckte.
    Der Mann warf Homan ein Kuvert zu und stieß ihn zur Treppe. Homan polterte, so schnell er konnte, hinunter und stürmte aus dem Haus.
    Die Getupfte wartete auf der anderen Seite des Zauns. Er lief grinsend auf sie zu und fuchtelte mit dem Kuvert durch die Luft – jetzt endlich konnte er sich auf den Weg zu dem schönen Mädchen machen.
    Aber nun nahm die Getupfte Reißaus, und ein grelles Licht blendete ihn. Sie sah sich um. Polizeiautos kamen die Straße entlang.
    Homan nahm die Beine in die Hand, schob das Kuvert in seine Tasche und rannte. Nicht zum Tor, vor dem die Polizisten aus ihren Autos sprangen, sondern in den hinteren Teil des Parkplatzes, wo er sich auf die oberste Stufe des größten Lastwagens hievte. Er drehte sich um. Die Polizisten schwärmten auf dem Parkplatz aus. Er konnte nicht zulassen, dass sie ihn ins Gefängnis in Edgeville sperrten oder in die Schule zurückschickten. Er durfte nicht wegen der Sache, die Pudding und die Getupfte zur Flucht veranlasste, festgenommen werden.
    Der Lastwagen war unverschlossen. Es machte ihm keine Mühe, den Motor in Gang zu bringen, aufs Gaspedalzu treten und auf den Zaun zuzufahren. Es war nicht einmal schwer, aus dem Führerhaus zu springen und zuzusehen, wie der Laster den Zaun niedermähte.
    Die Polizei nahm die Verfolgung des Lastwagens auf. Homan lief in die andere Richtung um das Gebäude herum zu dem Erdfleck am Zaun, ließ sich auf die Knie fallen und begann, wie wild zu graben. Als er einen Tunnel freigelegt hatte, musste er an das schöne Mädchen denken und daran, wie sie das Baby aus sich herausgepresst hatte.
    Er zwängte sich durch den Tunnel und lief keuchend und schwitzend durch die Straßen.
    Er entdeckte einen Güterzug, wie er sie oft auf seiner Flucht gesehen hatte, auf der Überführung. Er konnte es schaffen, auch wenn er keine fünfzehn mehr war.
    Er kletterte auf die Brücke. Du darfst nicht erlauben, dass man dich in die Knie zwingt, pflegte Blue zu sagen, wenn ihnen jemand etwas angetan hatte. Wenn dir das gelingt, bist du der Gewinner. Eine letzte Anstrengung, und er war auf dem Zug. Noch ein Sprung zu einem geschlossenen Waggon. Er drückte sich flach auf das Dach.
    Der Zug nahm an Fahrt auf und raste hoch über der Stadt dahin. Homan hatte keinen Schimmer, wohin er fuhr. Er wusste nur, dass er so schnell wie möglich zu dem schönen Mädchen zurückmusste.

In Aschenbrödels
Kutsche
1968
    Martha hörte eine Eisenbahn in der Ferne, ehe sie die Augen aufschlug. Das Geräusch war so besänftigend wie die Atemzüge. Das musste Earls Atem sein; und wie gut es sich anfühlte, ihm so nah zu sein. Nur allmählich kam ihr zu Bewusstsein, dass Earl schon seit Jahren nicht mehr an ihrer Seite geschlafen hatte und dass es rund um ihre Farm weit und breit keine Gleise gab. Dann drangen fremde Gerüche in ihre Nase: nach blumiger Seife und Möbelpolitur. Als sie sich umdrehte und das Bett neben sich nach Earl abtastete, wurde sie sich gewahr, dass sie den süßen Geschmack von Bonbons im Mund hatte. Sie hatte keine Bonbons im Haus. Ihr fiel wieder ein, dass sie sich mit zwei sauren Drops aus einer Schale, die an einer Hotelrezeption stand, bedient hatte. Ihre Hand erreichte den Rahmen des Bettes – es war leer. Trotzdem atmete jemand. Und plötzlich war alles wieder da: der Koffer, die Fahrt nach Well’s Bottom über die Scheier Road, das Hinweisschild zu Henry’s Hotel, die Glocke an der Rezeption.
    Das Baby.
    Sie setzte sich auf. Bäume warfen Schatten auf die Jalousie. Das Baby lag in dem Aufsatz eines Stubenwagens, den ihr Eva mitgegeben hatte. Als sie den Korb nach ihrer Ankunft um drei Uhr morgens in diesem Zimmeram Fußende des Bettes aufgestellt hatte, war ihr klar geworden, dass sie noch nie zuvor bis in die Morgenstunden aufgeblieben war – ganz bestimmt nicht, um Windeln zu wechseln. Sie hatte den Geruch nach Holzfeuer und das Rauschen in den Bergen wahrgenommen. Sie hatte durch die Ritzen in der Jalousie gelinst, aber die Nacht war in diesem Winkel des Staates New York zu dunkel. Nachdem die Kleine endlich eingeschlafen war, zog Martha ihr Nachthemd an und schlug die Tagesdecke zurück. Der Schlaf übermannte sie abrupt, und erst später,

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