Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Guter Gott, ist es wirklich schon September?«
Julia konnte nicht antworten, aber das spielte keine Rolle; Martha liebte es, mit ihr zu sprechen. Julia war ein so fügsames, kluges und wunderbares Kind! Ihr von lustigen Locken umrahmtes Gesicht war herzförmig und breit mit dunklen, lebhaften Augen. Julia war nicht immer fröhlich – oft machte sie ein ernstes Gesicht und war nicht so leicht zum Lachen zu bringen wie andere Kinder. Aber wenn Martha mit ihr redete, lächelte sie süß und vertrauensvoll, und Martha schmolz dahin. Allerdings war das nicht der einzige Grund, warum sie ihr so viel erzählte. Diese einseitigen Gespräche und die tägliche Routine mit den Spaziergängen im Park, dem Spiel mit den Bauklötzen, den Seifenblasen und dem In-die-Hände-Klatschen ließ sie erscheinen wie Großmutter und Enkelin. Trotz ihrer nach wie vor ungewöhnlichen Lebensumstände – sie hüteten das Haus in Maplewood, New Jersey, für ihrenSchüler Landon –, fühlte sich Martha sicher, solange sie sich unauffällig verhielten und stets auf alles gefasst waren.
Martha saß am Rand des Teiches auf ihrer angestammten Bank. Zum ersten Mal war es ihr gelungen, vor Ivamae und Betty im Park zu sein. Sie war sehr unruhig, weil sie nicht wusste, was in ein paar Stunden, wenn Landon von seinem Sommerhaus zurückkehrte, geschehen würde. Deshalb war sie zu schnell von Maplewood hierher gefahren. Sie schaute auf ihre Uhr. Erst zwanzig vor elf. Martha hielt nach ihren Freundinnen Ausschau. Ihre Freundinnen . Sie lächelte still. Ihre Schüler hatten es geliebt, die Herkunft bestimmter Wörter zu ergründen – wenn man beispielsweise die Ursprünge des Wortes »Pyjama« ergründete, wurde man in frühere Zeiten und nach Indien und Persien versetzt. »Hallo« war ein Wort, dass Alexander Graham Bell erfunden hatte, damit die Menschen etwas sagen konnten, wenn sie sich am Telefon meldeten. »Die Sprache, die ihr benutzt«, hatte Martha erklärt, »zeigt uns ihre Geschichte.« Doch wenn sie auf die Martha vom letzten September zurückblickte, gab es keinerlei Hinweis auf das Wort »Freundinnen« in ihrem Sprachgebrauch.
»Matilda!«, hörte sie.
Sie drehte sich um. Ivamae und Betty näherten sich mit den Kindern, auf die sie aufpassten. Martha winkte.
»Ich wusste, dass Sie heute früher dran sein würden«, sagte Ivamae – ihre Stimme war tief wie die Gospelsongs, die sie sonntags sang. Ihr vierjähriger Schützling Audrey sprang aus dem Wagen und rannte zu Martha. »Miss Matilda!« Betty folgte ihr, der drei Jahre alte Lawrence lutschte am Daumen.
»Natürlich«, meinte Betty, die ihre Jugend in Irland nicht verleugnen konnte. »Sie ist aufgeregt.«
Martha umarmte Audrey. »Hast du heute Brot mitgebracht?«, wollte das Kind wissen.
»Ja.«
»Kann ich es haben und die Enten damit füttern?«
»Ja.« Martha griff in die Tasche, die an Julias Wagen hing, und nahm einen frischen Brotlaib heraus. Zu ihren Freundinnen sagte sie: »Dies ist ein aufregender Tag, aber ich hoffe, dass alles gut wird.«
»Ich wäre ein Nervenbündel«, behauptete Betty. »Wenn die Männer nach einem Arbeitssommer heimkommen, spuken ihnen manchmal seltsame Ideen in den Köpfen herum.«
Ivamae erzählte: »Ich war einmal bei einem Mann angestellt, der seiner Frau einredete, sie solle aufhören zu arbeiten – das tat sie, und ich verlor meinen Job als Kindermädchen.«
Martha sog scharf die Luft ein – sie wollte nicht preisgeben, dass Landon keine Frau hatte und kaum solche Forderungen stellen würde. Andererseits wusste sie, dass er als erfolgreicher Künstler Ruhe brauchte und die Anwesenheit einer alten Frau und eines kleinen Kindes als störend empfinden könnte. Es war durchaus möglich, dass sie sein Haus, diesen Park und die Freundinnen verlassen musste.
Die Enten watschelten in ihre Richtung. Martha brach ein paar Stücke Brot für Audrey ab, die sie den Enten zuwarf. »Sie mögen dein Brot, Miss Matilda«, stellte Audrey fest, »genau wie ich.«
Betty nahm auf der Bank Platz. »Mein Ex liebte mein selbst gebackenes Brot.«
»Ein komischer Kauz«, meinte Ivamae und ließ sich ebenfalls nieder. »Er mochte dein Brot, aber das hat ihn nicht davon abgehalten, auf Abwegen zu wandeln.«
»Mittlerweile möchte ich ihn sowieso nicht mehr zurückhaben.«
»Aber es wäre besser gewesen, wenn er sich entschuldigthätte, dann hättest du ihm den Laufpass geben können. Es ist immer schöner, wenn man selbst die Entscheidung trifft.«
Martha
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