Die Geschichte eines schoenen Mädchens
wünschte, sie könnte mit Details aus ihrer Ehe, ihrer Lebenssituation und ihrer ganzen Biografie zu der Unterhaltung beitragen. Da sie jedoch fürchtete, die Verschwiegenheit der beiden Frauen nicht richtig einzuschätzen, zwang sie sich zur Zurückhaltung und beschränkte sich auf Zuhören und mitfühlende Worte. Das schien alle zufriedenzustellen; immerhin war Martha eine ältere Frau, die – wie sie auch – ein Kind hütete, und sie fühlten sich in ihrer Gesellschaft wohl.
Ivamae und Betty betrachteten Martha nicht als Nanny. Bei ihrem ersten Zusammentreffen im Frühjahr tischte sie ihnen dieselbe Lüge auf wie seinerzeit Henry und Graciela und später Landon. An dem Tag hatte sie gerade begonnen, sich in Maplewood umzuschauen, und war in diesen Park gekommen. Während sie mit Julia auf eine Bank zuging, sah sie die beiden Frauen – die eine dunkel, die andere hell, beide mit weißen Haaren und einem Kinderwagen. Sie sprach mit Julia, während die Frauen auf einer Bank miteinander lachten und die Kinder die Enten fütterten. Als Martha die schlafende Julia zurück zum Dodge schob, hörte sie eine tiefe Stimme sagen: »Ein wunderschönes Kind haben Sie da.« Martha sah auf, und die irisch aussehende Frau fügte hinzu: »Und das gute Benehmen liegt in der Familie, oder?« Später begriff Martha, dass das das Stichwort für sie gewesen wäre, zu sagen, dass sie nicht mit Julia verwandt, sondern ihr Kindermädchen war. Doch da sie erst vor Kurzem Bekanntschaft mit der Notwendigkeit der Täuschung gemacht hatte, nahm sie zu der Unwahrheit Zuflucht, die sie schon einmal gebraucht hatte. »Sie ist die Tochter einer Nichte.« Diesmal schmückte sie die Geschichte ein wenig aus. »Die Mutterarbeitet in Manhattan, und ihr Mann hält sich geschäftlich in Übersee auf, deshalb brauchten sie jemanden, der für die Kleine da ist.«
Betty fragte: »Und Sie sind noch in Übung?«
Martha strich über Julias Locken. »Ich habe keine eigenen Kinder. Dies ist etwas ganz Neues für mich.«
Ivamae bot ihr ein Bonbon aus einer Tüte an.
»Kommen Sie morgen wieder her«, schlug Betty vor, als sich Martha bediente. »Wir stehen Ihnen mit Rat und Tat zur Seite.« Und das taten sie – ihre Ratschläge knüpften dort an, wo Gracielas geendet hatten. Es schien eine Art Geheimsprache zwischen Müttern zu geben, die keine kinderlose Frau verstand.
Jetzt sagte Betty: »Wir sollten Ihnen Hoffnung machen. Vielleicht verändert sich gar nichts.«
»Ich vertraue einfach darauf, dass sie mich bleiben lassen«, erwiderte Martha.
Die drei Freundinnen kramten ihre Lunchpakete aus den Taschen. Martha hoffte wirklich, dass Landon sie im Haus behielt. Bei seinem letzten Anruf vom Cape Cod hatte er angedeutet, dass sie sich mit ihrem Auszug Zeit lassen solle; er habe ohnehin verschiedene Aufträge und würde sich hauptsächlich in seinem Atelier aufhalten.
Die drei Freundinnen beendeten ihr Essen und knüllten die Tüten zusammen. Wäre es nicht wunderbar, wenn Julia mit Lawrence und Audrey aufwachsen könnte? Martha hob sie aus dem Wagen, drückte sie an sich und sah zum Teich. Welche Geschichte hat das Wort »Kind«? Was ist die Zukunft von »mein«?
Martha merkte wieder einmal, wie sehr sie sich hier zu Hause fühlte, als sie in die South Orange Avenue einbog und Julia auf dem Rücksitz schlief.
Endlich würden sie mehr Geld bekommen; Eva hattegeschrieben, dass sie wahrscheinlich einen Käufer für die Farm gefunden hatten, und Martha konnte sich immer noch etwas mit Nachhilfestunden dazuverdienen. Doch das musste warten, bis Julia in vier Jahren in die Vorschule kam. Vier Jahre . Martha festigte den Griff ums Lenkrad. Sie war bereits einundsiebzig. Und jeden Tag, wenn Ivamae und Betty über Schmerzen in den Gelenken klagten oder von ihrer Angst sprachen, sich die Hüfte oder den Oberschenkel zu brechen, musste sich Martha eingestehen, dass sie auch allmählich schwerfällig wurde. Es kam ihr vor wie ein Wettrennen: Julias Freiheit gegen Marthas Gesundheit. Sie erinnerte sich daran, was Henry im Frühling gesagt hatte, als er den Kofferraum des Dodge zuschlug und zum Fahrerfenster lief, um sich zu verabschieden: »Es wird sich alles fügen, Mrs. Zimmer.« Bisher hatte er recht behalten, deshalb blieb ihr gar nichts anderes übrig, als daran zu glauben, dass sich daran in den nächsten Stunden und Monaten – und, Gott helfe ihr, in den nächsten Jahren – nichts ändern würde.
Ihr war durchaus bewusst, dass Henry seinem Optimismus
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