Die Geschichte eines schoenen Mädchens
in aller Eile Ausdruck verliehen hatte, als sie sein Hotel verlassen musste. Sie dachte an den schrecklichen Moment zurück. Julias erste Lebensmonate verliefen friedlich in Henrys Hotel – Martha spielte mit der Kleinen und lernte von Graciela, was ein Baby brauchte. Sie schrieb regelmäßig Briefe, einige an Julia, die sie lesen sollte, wenn sie älter war, andere an die ehemaligen Schüler, mit denen sich Eva in Verbindung gesetzt und die sie gebeten hatte, die Korrespondenz an die Lehrerin an sie zu adressieren. Sie sammelte die Post und leitete sie in einem großen wattierten Umschlag an das Hotel weiter. Henry brauchte des Öfteren die Hilfe seiner Frau, deshalb setzte sich Martha, wenn Julia ihren Mittagsschlaf machte, an die Rezeption. Im späten Frühjahr hatte Martha soviele Briefe an Julia verfasst, dass Graciela ihr eine große, mit Filz ausgeschlagene Holzschatulle mit Schnitzereien schenkte. Wann immer Martha den befestigten Deckel anhob, quietschten die Scharniere wie ein kleines Vögelchen, und sie dachte: Selbst wenn sie – wer immer sie auch sein mochten – Julia von mir wegholen sollten, hat sie immer noch meine Worte, an denen sie sich orientieren kann.
Dann kam jener Sonntag im Mai – ausgerechnet der Muttertag. Ich sollte nicht mehr daran denken, sagte sie sich, als sie an dem Gehege vorbeifuhr, wo sie oft mit Julia der Fütterung der Rehe zuschaute. Aber es ist schon einmal geschehen und könnte wieder passieren. Das durfte sie nicht vergessen.
Martha hatte den Kindern geholfen, einen Kuchen für Graciela zu backen, und ging mit Julia auf dem Arm zu ihrem Zimmer zurück, um sich vor dem Dinner noch ein wenig auszuruhen. Sie legte sich angezogen aufs Bett und döste, als sie erst eilige Schritte im Flur, dann ein eindringliches Klopfen an ihrer Tür hörte. »Mrs. Zimmer?« Es war Graciela.
Martha machte ihr auf, und Graciela stürmte herein und drückte die Tür hinter sich zu. »In der Lobby ist ein Mann, der nach Ihnen fragt.«
Martha wich einen Schritt zurück. »Wer ist er?«
»Er hat lediglich gesagt, dass er in einer amtlichen Angelegenheit hier ist.«
» Was? «
»Er weigerte sich, mir zu sagen, worum es sich handelt. Er will mit Ihnen persönlich sprechen.«
»Und er hat keinen Hinweis gegeben?«
»Er sagte … Sie könnten Informationen über eine vermisste Person haben.«
Martha zwang sich, still zu bleiben und sich nicht nach Julia umzudrehen.
»Ist er … ist er von der Polizei?«
»Er träg keine Uniform. Aber er hat gesagt, er käme von einer Schule.«
» Einer Schule?
»Das ergibt keinen Sinn. Ein Vermisster, eine Schule. Sie sind im Ruhestand.«
»Was haben Sie ihm geantwortet?«
»Dass Sie außer Haus sind und wir ihn anrufen würden, sobald Sie zurückkehren. Aber er meinte, er wäre von weit hergekommen und würde sich ein Zimmer bei uns nehmen, um auf Sie zu warten. Wir konnten nicht gut behaupten, dass wir voll belegt sind. Auf dem Parkplatz steht kein einziges Auto.«
»Er ist in einem Zimmer?«
»Nein, im Moment sitzt er in der Lobby. Ich wollte ihn dazu bewegen, von dort wegzugehen, aber Henry meinte, wir sollten zuerst mit Ihnen sprechen, ehe wir etwas unternehmen.«
Schließlich drehte sich Martha doch nach Julia um. Die wunderschöne Ju-Ju schlief in ihrem Korb. Martha setzte sich auf den Bettrand und legte die Hand auf Julias Brust. »Oh, du liebe Güte!«
»Er muss sich irren. Sie wissen nichts über eine vermisste Person. Julia – sie gehört doch zu Ihnen, oder?«
Martha nickte. Sie fuhr mit einem Finger über Julias Kleidchen und fasste nach der kleinen Hand. Nach einer Weile sah sie Graciela an. »Wir müssen weg«, sagte sie. »Helfen Sie mir?«
Noch in derselben Stunde reisten sie ab. Henry führte sie, ohne Fragen zu stellen, durch eine Hintertür hinaus, während sich Graciela an der Rezeption zu schaffen machte und der Mann in der Lobby auf die Uhr schaute. Sobald Henry zurückkehrte und die Rezeption übernahm, rief Graciela Landon an. Er war bereits am CapeCod und sagte, Martha könne den ganzen Sommer über in seinem Haus wohnen.
Es wird nicht immer so sein, beruhigte sie sich. Obschon sie sich nicht erklären konnte, wie sie ihr auf die Spur gekommen waren, schwor sie sich, alles, was in ihrer Macht stand, zu tun, um im Verborgenen zu bleiben. Sie würde sich bei Fremden mit einem falschen Namen vorstellen und keinen Absender mehr auf den Briefen angeben, die sie an Eva schickte.
Als Martha vor dem Haus in Maplewood hielt,
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